Liebe Freunde,
es ist 45 Jahren her, dass der Monsun in Nepal letztmals so gewaltsam wie dieses Jahr gewesen ist. Er hat große Katastrophen verursacht, die ganzen Teilen des Landes enorme Schäden zugefügt haben. Viele Brücken und Straßen wurden zerstört, Erdlawinen verschluckten ganze Dörfer, und sogar Kathmandu wurde schwer getroffen und mehrmals überschwemmt. Anfang Oktober geschah dann das allerschlimmste Hochwasserdesaster, das die am Bag-mati Fluss liegenden Slums zum großen Teil vernichtete: Mitten in der Nacht, als alle Menschen im Tiefschlaf waren, kam eine riesige Wasserwelle aus den höheren Gebieten des Himalayas und riss die Hütten, die nahe am Flussufer standen, mit sich weg. Über 700 Menschen wurden in Nepal als ertrunken oder verschwunden gemeldet.
In den drei Slums, in denen wir arbeiten, waren die Schäden bei den in Zelten lebenden Madhesis am schlimmsten: Um 3 Uhr morgens wurde ihr Lager im Nu weggespült, und sie konnten nur versuchen, sich und ihre Familie zu retten. Dabei verschwand ein vierjähriges Kind, das nach langem Suchen auch mit Hilfe der Polizei nicht gefunden werden konnte. Die ganze Sippe stand unter Schock und die Frauen weinten lange um das verschwundene Kind. Auch wir waren entmutigt: Gerade vor wenigen Tagen hatten wir den Familien große feste Plastikplanen gekauft, damit sie sich vor dem nahenden Winter schützen konnten, aber auch diese wurden mit Kleidern und Decken brutal hinweggeschwemmt. Uns blieb nur noch übrig, neue Planen zu besorgen, damit diese Menschen sich zumindest ein wenig vor der Kälte abschirmen können. Sie sind als Nepalesen nicht registriert und bekommen als Staatenlose keine Hilfe von der Regierung. Wir unterstützten sie auch mit Essen und Kleidern, aber gebrauchte Kleidung in gutem Zustand ist in einem armen Land wie Nepal schwer zu finden. Auch die Kochtöpfe wurden von den Wassermassen weggeschwemmt, genauso wie sämtliche Autos und Busse, die ganz in der Nähe geparkt waren.
Etwas besser ging es den 1500 Menschen des Slums von Thaoathali. die alle die nepalesische Nationalität besitzen und deshalb Essen und etwas Beistand von der Regierung bekamen. Den Familien, die ganz nahe am Flussufer wohnten, wurden ebenfalls im Schlaf die Hütten plötzlich über den Köpfen weggerissen, und die ganze Siedlung stand rasch unter einem Meter Wasser. Während die Menschen sich bemühten, sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen, verloren sie alles, was sie zum Überleben brauchen. Die großen Trinkwasser-Container waren am Vortag von uns gefüllt worden und konnten glücklicherweise durch ihr Riesengewicht der Wasserwucht widerstehen.
Nur unsere „Maute"- Leute, die Madhesis, die wir vor drei Jahren aus der Müllhalde in einer sauberen Blechhütten-Siedlung untergebracht hatten, haben ohne Schaden das schwere Unglück überlebt, weil sie auf einem Hügel wohnen und gut vor dem Wasser geschützt waren. Die Kinder gehen regelmäßig zur Schule, werden von unseren Mitarbeiterinnen Muna und Sushma bei ihren Hausaufgaben unterstützt und geben sich beim Lernen große Mühe.
Muna geht täglich von Haus zu Haus und versorgt die kranken Kinder mit Medikamenten. Tagsüber wird unser Klassenzimmer zum Kindergarten, und Sushma alphabetisiert die ganz Kleinen, damit sie später eingeschult werden können. Die Väter verkaufen weiterhin ihre selbst gebrauten pflanzlichen Arzneien in nah gelegenen Dörfern, aber die meisten Menschen aller Slums verdienen zu wenig, um etwas anderes als Reis zu essen. Allein der mit allen nötigen Vitaminen und Mineralien versetzte Milchbrei, den alle unsere 250 Slumkinder täglich von uns bekommen, hält sie gesund. Viele der Männer des Slums von Thapathali verlassen ihre Familien, und die Mütter müssen als Schwerarbeiterinnen auf Baustellen oder als Dienstmädchen in wohlhabenderen Haushalten arbeiten. Doch wird es für sie immer schwieriger, solche Jobs zu bekommen, weil die Menschen, denen es finanziell etwas besser geht, jetzt selbst mit den wachsenden Lebensmittelpreisen nicht umgehen können und sich eine Haushaltshilfe schlichtweg nicht mehr leisten können.
Die Weltbank hat Nepal 150 Million USD Dollars zukommen lassen, um den vielen Flutopfern im ganzen Land beizustehen, mit der Bitte, Straßen und Gebäude ab jetzt so zu bauen, dass sie den mit Sicherheit vor uns liegenden Klimatastrophen besser trotzen können. Auch die Vereinten Nationen spendeten 17 Million USD. Seit so vielen Jahren bekommt Nepal zu diesen Zwecken viel Geld vom Ausland, aber jedes Jahr nach der Regenzeit ist die Hälfte der nepalesischen Straßen unbrauchbar. Eine einzige Sache funktioniert in diesem Land reibungslos: Es ist die stetige Auswanderung der nepalesischen Bürger. Die politische Instabilität, die Korruption und die Inkompetenz der Parteien, deren Chefs abwechselnd zum Premierminister ernannt werden, bringen mögliche Investoren davon ab, in den Himalaya-Staat zu investieren. Arbeitsplätze gibt es deshalb kaum.
Seit Jahren reisen junge Nepalesen als Studenten nach Europa, England, Amerika, Australien und Japan, indem sie sich erst einmal viel Geld von Familie und Freunden leihen, um den Flug und die teuren Gebühren dieser ausländischen Universitäten bezahlen zu können. Theoretisch mussten sie am Ende ihrer Studienzeit nach Nepal zurückkehren, aber bis heute schaffen es die meisten immer noch, in der neuen Heimat zu bleiben, auch wenn nicht wenige von ihnen als Bedienung in Restaurants oder als Hilfskräfte in Supermärkten enden.
Beinahe die Hälfte von „unseren" Kindern aus „Children's World" lebt heute im Ausland. Manche von ihnen, die einen buddhistischen Namen - wie z. B. „Lama" - tragen, schaffen es sogar, sich als tibetische Flüchtlinge in Europa auszugeben, um an ihr Ziel zu kommen, obwohl sie keinesfalls Tibeter sind. Echte Tibeter sind in Nepal immer willkommen und erhalten ohnehin problemlos die nepalesische Nationalität. Die ärmsten Nepalesen migrieren massenweise in die Emirate oder nach Südkorea als billige Arbeitskräfte. Sogar Israel ist immer noch ein beliebtes Ziel! Vor Kurzem hat Israel einen Vertrag mit der nepalesischen Regierung unterschrieben: 2.200 junge Leute wurden von der Botschaft ausgesucht, damit sie für drei bis fünf Jahre als Altenpfleger im gelobten Land arbeiten.
Es ist in Nepal zudem sehr gefragt, zur Armee zu gehen, um dann als UN-Friedenssoldat für einen niedrigen Lohn in Kriegsgebieten wie Kongo oder Libanon zu dienen. Weil Nepalesen kein Visum brauchen, um in Brasilien einzureisen, war es bis jetzt beliebt nach Sao Paulo zu fliegen, um von dort für teures Geld von Menschenhändlern in die USA eingeschleust zu werden. Ende September landeten 176 Nepalesen in Sao Paulo, aber niemand wartete am Flughafen auf sie. Die armen Leute, die schon vorher für den „Trip" bezahlt hatten, verbrachten eine Woche ohne Essen im Flughafengebäude. Da sie nicht wussten wohin, wurden sie alle wieder nach Hause abgeschoben, und die nepalesische Regierung entschied auf die Schnelle, dass kein Mensch mit einem Flugticket nach Brasilien ab jetzt ohne Visum Nepal verlassen würde.
Wir machen uns unsere Gedanken über die Zukunft, zumal die Jahre vergehen und wir nicht jünger werden. Auch Nepal hat sich teilweise entwickelt und schließlich sind heute nicht alle Nepalesen völlig verarmt und könnten durchaus selbst anfangen, ihren ärmeren Mitmenschen beizustehen. Doch was uns am meisten entmutigt ist, dass wir nicht wie früher arbeiten können, weil die Lebenskosten in Nepal genauso hoch sind wie hier in Deutschland, und unsere frühere Hilfe finanziell nicht mehr geleistet werden kann. Das empfanden wir bei dieser Hochwasserkatastrophe als besonders frustrierend.
Mindestens zwei weitere Jahre wollen wir noch unser Bestes tun, damit die Kinder, die wir eingeschult haben, ihren Schulabschluss machen können und die ganz kleinen bis zum 5. Lebensjahr etwas Nahrhaftes zu essen bekommen. Wir danken herzlich allen, die uns weiter so treu unterstützen und wünschen Ihnen schöne Weihnachten und das Bestmögliche für 2025.
Herzliche Grüße
Elisabeth Montet
P.S.: Bitte lesen Sie auch den Brief des blinden Furgel Sherpa, der in unserem damaligen Waisehaus aufwuchs und dem wir halfen seine Behinderung zu meistern und der eine Aubildung erhielt mit der er in Nepal beruflich Fuß fassen konnte.