Kinderhilfe Nepal e.V.


Weihnachts Rundbrief Dezember, 2023

Liebe Freunde,

jahrzehntelange ungelöste Grenzstreitigkeiten Nepals im Süden mit Indien und im Norden mit China flammen immer wieder auf. Dieses Jahr druckte die nepalesische Regierung die im Sinne ihres Landes »rechtskräftige« Landkarte des kleinen Himalayastaates, was die zwei Großnachbarn empörte. Tatsache ist aber, dass Nepal zwischen China und Indien regelrecht eingeklemmt ist und sich mit seinen 30 Millionen Nepalesen nicht gegen Indien oder China mit je 1,4 Milliarden Einwohnern behaupten kann. Dessen sind sich die Regierenden Nepals bewusst und tun bei offiziellen Besuchen ihr Bestes, um sich bei beiden Riesennachbarn stets gut zustellen. Der Bürgermeister von Kathmandu Balendra Shah ist einer, der die neue »offizielle« Karte seines Landes am lautesten verteidigt und der aus Protest im Herbst nicht zögerte, eine Einladung nach Peking abzusagen. »Baien«, so wird er jetzt genannt, wird von immer mehr Anhängern, besonders Jüngeren, angehimmelt, und man spricht von ihm bereits als dem nächsten Premier Minister Nepals.

Im letzten Mai widmete ihm die New York Times eine ganze Seite und erklärte ihn zu einem der 100 einflussreichsten Menschen der Welt! Bei den Ärmsten der Slums von Kathmandu bleibt er aber unbeliebt. Das Oberste Gericht stimmte zwar seiner Entscheidung zu, alle Slums der Hauptstadt zu räumen, aber nur, wenn Wohnersatz für alle bedürftigen Menschen zur Verfügung stehen wird, was allerdings nicht bald zu erwarten ist. Demzufolge bewahren die Bewohner des Slums von Thapathali die Ruhe und tun so als wäre ihr Wohnproblem gelöst. Wie immer mehr arme Menschen versuchen sie dem Verbot des Bürgermeisters zu trotzen, und machen wieder kleine Geschäfte auf den Bürgersteigern Kathmandus, wohl wissend, dass sie schnell fliehen müssen, sobald die Polizei auftaucht. Es ist für diese Leute unmöglich, auf anderer Art das zum täglichen Essen notwendige Geld zu verdienen. Manche Slumbewohner hatten Familienmitglieder, die bisher aus Israel Geld schicken konnten. Die meisten arbeiteten bis zum 7. Oktober auf den Feldern der Kibbuze nahe des Gazastreifens. Zehn von ihnen wurden bei dem Massaker grausam ermordet, sieben verwundet und etwa siebzehn werden entweder vom Hamas als Geiseln festgehalten oder vermisst. Zweihundert von ihnen konnten fliehen und am 13. Oktober nach Hause zurückfliegen.

Jetzt fehlt Geld für die Familien: Die Regierung weiß schon lange, dass die Armut die Unterernährung von nepalesischen Frauen und Kindern bedingt und dass diese Auswirkung auf ihre Gesundheit eines der größten Probleme des Landes bedeutet, aber alle jährlich geplanten Programme gegen akute Unterernährung werden nie durchgeführt, weil die Finanzlage es nicht erlaubt, und die Mittel für solche Projekte vom Budget einfach gestrichen werden. Kinderhilfe Nepal hat dieses Problem schon lange erkannt und nicht nur die 300 Kinder, die wir in Kathmandu betreuen, bekommen täglich unseren mit Vitaminen und Mineralien angereicherten Milchbrei, sondern auch alle schwangeren Frauen und die wenigen alten Menschen der Slums. Die Regierung erklärte im September, dass das Land im Fall einer Katastrophe nur für drei Monate über Getreide verfüge. Die meisten Lebensmittel werden importiert: Millionen von kleinen Bauern haben ihr Land verkauft, um ins Ausland zu gehen -in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Jetzt ist der Boden, der Nahrungsmittel produzieren sollte in den Händen von Großgrundbesitzern, die ihre Grundstücke lieber für viel Geld an kleine Fabriken vermieten. Gesetze, die dies hätten verhindern können, standen schon lange auf der Agenda verschiedenster Regierungen, wurden aber nie durchgesetzt.

Deshalb bleibt die Hauptsorge der Menschen von Thapathali die Angst, hungern zu müssen. Unsere Mitarbeiterin Muna geht jeden Morgen von Hütte zu Hütte und versorgt die kranken Kinder. Wir haben ein großes Problem mit den Erwachsenen, die uns anflehen, ihnen Geld für eine Kernspintomographie oder teure Eingriffe für sich selbst zu geben. Es ist unangenehm, diese Hilfe zu verweigern und den kranken Menschen immer wieder zu erklären, dass wir eine Organisation sind, deren Ziel es ist, nur für Kinder zu sorgen. Wir helfen, soviel wir können, und lassen dreimal in der Woche Trinkwasser durch LKWs für die 1.500 Menschen der Siedlung bringen.

Auch unsere »Maute« Sippe, die Madhesis, die jetzt in zwei verschiedenen Siedlungen aus Blechhütten wohnen, führen einen täglichen Kampf ums Essen. Wir versorgen sie regelmäßig mit Trinkwasser, und die Kinder bekommen zum Glück jeden Tag unseren Milchbrei, aber der größte Kummer der Eltern ist es, jeden Morgen nicht zu wissen, ob ihre Familie an dem Tag überhaupt etwas nahrhaftes in den Magen bekommen wird. Die Männer bemühen sich um Kunden für ihre selbstgebraute Arzneien und führen auch auf der Straße kleine Operationen wie Ohrenreinigung oder die Entfernung von infizierten Abszessen bei Nebenhöhlenentzündungen durch. An »ertragreichen« Tagen können sich die Familien Hühnerfüße oder am liebsten Hähnchen Darm leisten: Es sei ein billiges und leckeres Gericht, sagen sie.

Die Kinder machen Fortschritte in der Schule, und ihre Hausaufgaben werden täglich von unserer Mitarbeiterin Sushma überwacht.

Ein kleines Drama fand im September statt: Eines der größeren Mädchen, Rasni, wurde von einem »bösen Geist« besessen, teilte Muna aufgeregt am Telefon mit. Wir baten sie, die Dreizehnjährige zu einem Psychiater zu bringen. Der Arzt erklärte, das Problem würde sich von allein lösen und verschrieb Valium, allerdings ohne Erfolg. Unsere Leute meinten, es sei wirklich ein böser Geist, der die ganze Familie ins Unglück stürzen wollte. Alle gingen dann zu einem entfernten Tempel, um bei der Göttin Kali Erlösung zu finden. Kali, »die Schwarze«, gilt bei den Hindus als die Göttin, die gegen Tieropfergaben Wünsche erfüllt. Im Kali-Tempel gestand Rasnis Tante, dass sie vor zwei Monaten der Göttin eine Ziege versprochen hatte, wenn sie das Leben ihres kranken Babys retten würde. Der Säugling wurde gesund, aber die Göttin geriet in Zorn, weil sie keine Ziege bekam und suchte sich ihre Nichte Rasni aus, um die ganze Familie zu bestrafen. Die Tante wurde dann gezwungen, für Kali eine Ziege zu kaufen und zu opfern, und das Mädchen wurde sofort gesund. Nicht nur unsere Madhesi Leute sind fest überzeugt, dass Rasni in diesem Fall nur von der Göttin geheilt werden konnte, sondern auch unsere zwei Mitarbeiterinnen Muna und Sushma: Beide sind der festen Meinung, dass wir, »Westler«", nicht in der Lage wären, solche Sachen zu verstehen, dass sie aber in Nepal durchaus Realität sind.

Dank unserem Milchbrei sind unsere »Maute« Kinder sehr gesund. Die Kinder ihrer entfernten Verwandten, die unter Stoffzelten leben und bisher ein Nomadenleben führten, sind dagegen unterernährt und krank. Wegen der ständigen Preiserhöhungen der öffentlichen Transportmittel können diese Menschen ihr Nomadendasein nicht mehr führen und haben beschlossen in Kath-mandu zu bleiben. Die Frauen bemühen sich, mit aus alten Saris geknüpften Teppichen Geld zu verdienen oder gehen bei den zahlreichen religiösen Festen Kathmandus betteln. Die Männer arbeiten hin und wieder auf Baustellen, wenn es möglich ist. Diese Leute sind so schrecklich arm, dass wir beschlossen haben, auch ihre Kinder täglich mit unserem Milchbrei zu versorgen. Da die Frauen fast alle an Infektionen litten, haben wir für die Mütter der drei Madhesi Siedlungen eine Gynäkologin kommen lassen, die sie alle untersucht und aufgeklärt hat. Die meisten von ihnen waren noch nie zuvor bei einem Frauenarzt gewesen, und viele hatten große Angst. Unsere »Maute« Frauen, deren Kinder wir seit Jahren betreuen, gehen jetzt ins Krankenhaus, wenn ihre Babys zur Welt kommen. Die anderen Madhesi Frauen gebären aber ihre Kleinen nach wie vor ohne medizinische Hilfe in ihrem Zelt. Wenn der Säugling dabei stirbt, ist es halt Gotteswille.

Wir danken Ihnen sehr für Ihre treue Unterstützung der Kinderhilfe Nepal trotz der schwierigen, Besorgnis erregenden Zeiten, in denen wir zurzeit leben. Wir wünschen Ihnen nichtsdestotrotz schöne Weihnachten und ein gutes, gesundes neues Jahr 2024!

Herzliche Grüße und Frohe Weihnachten

Elisabeth Montet

P.S.: Bitte lesen Sie auch den persönlichen Brief von der blinden Goma, die in unserem früheren Waisenhaus in Kathmandu aufgewachsen ist und heute in Indien ein gutes Leben mit ihrem Mann und ihrem Sohn führen kann.