Liebe Freunde,
wer von Krieg und Drohungen mit atomarer Apokalypse abschalten will, braucht nur nach Nepal zu fliegen, denn dort weiß kaum einer, was gegenwärtig in der Welt geschieht. Die Presse berichtet meistens nur von Innenpolitik, und die meisten Menschen lesen ohnehin keine Zeitung. Nur ein Ereignis des öffentlichen Lebens hat die Leute dort wachgerüttelt: der rapide, hoch mediatisierte Aufstieg des parteilosen Rappers Balandra Shah, der im Mai zum Bürgermeister Kathmandus erwählt wurde und schon bald anfing, in der Hauptstadt tätig zu werden.
Ins Ausland zu gehen bleibt aber nach wie vor der Hauptwunsch aller Nepalesen: Die Ärmsten verdingen sich für Hundelöhne in den Golfstaaten. 80 % der 800.000 jungen Menschen, die jährlich aus nepalesischen Schulen und Universitäten entlassen werden, verlassen das Land: Die Kinder von wohlhabenden Eltern ziehen zum Studieren nach Australien oder in die USA, und finden immer einen Weg, dort zu bleiben. Die anderen werden von Agenturen ausgenützt, die sie gegen viel Geld nach Japan oder Korea bringen: Um dort immerhin etwa 2500 € im Monat zu verdienen, verzichten sie auf ihre in Nepal durch viel Mühe erworbenen Qualifikationen und erledigen vor Ort harte Feldarbeiten.
Wegen der weltweiten Inflation erweist sich dieses Geld später als zu wenig, um bei ihrer Rückkehr in der Heimat etwas Vernünftiges damit anfangen zu können. Neuerdings bieten dubiose Agenturen eine neue Route, um nach Europa zu gelan-langen. Gegen 3000 € werden junge Leute in die Türkei geflogen, nachdem ihnen versprochen worden ist, über Land vom türkischen Boden nach Griechenland gebracht zu werden. Das Drama ist, dass viele von ihnen nach der Landung in der Türkei verschwinden oder in den Wäldern zwischen beiden Ländern tot aufgefunden werden. Obwohl die Risiken eines solchen Weges inzwischen durchaus bekannt sind, zögern viele Leute nicht, sie einzugehen! Die meisten jungen Menschen, die es nicht schaffen, aus Nepal herauszukommen, sind arbeitslos.
Inflation und Preiserhöhungen erschweren nicht nur das Leben der Nepalesen, sondern auch die Arbeit der Kinderhilfe Nepal. Unsere Spender bleiben uns treu, aber bei einem monatlichen Betrag von etwa 5000 €, der uns seit dem Anfang unseres Projektes vor 33 Jahren so viele Möglichkeiten eröffnet hat, kommen wir heute nicht mehr weit.
Beim letzten Besuch in Kathmandu mussten Prioritäten gesetzt und Entscheidungen getroffen werden: Es war uns klar, dass wir unsere Tätigkeit in dem Slum, in dem wir das meiste erreicht hatten, aufgeben mussten: Es war nicht einfach, unseren Mitarbeitern im Banshighat Slum zu erklären, dass wir ihrer Gemeinschaft aus finanziellen Gründen unsere Hilfe entziehen mussten, um anderen viel ärmren Menschen beizustehen.
In unserer 15 Jahre langen Anwesenheit in Banshighat haben die Bewohner die Wichtigkeit von Hygiene verstanden und sorgen für eine ordentliche Umgebung und saubere Kinder. Außerdem bezahlen sie jetzt selbst ihr eigenes Trinkwasser, das regelmäßig geliefert wird. Wir haben unseren Mitarbeitern erklärt, dass es für sie jetzt möglich wäre, den Kindergarten zu reorganisieren, und dass sie ihn gegen einen geringen Betrag von den Eltern durchaus selbst weiterführen könnten. Sie waren natürlich nicht begeistert, selbst die Verantwortung zu übernehmen, und sind überzeugt, dass die Eltern niemals Geld für einen Kindergartenplatz ausgeben werden. Sie würden es aber versuchen, meinten sie. Es ist für uns nicht leicht, unsere Tätigkeit in Banshighat zu beenden, weil wir dort für die Kinder sehr hart gearbeitet haben und an den Menschen des Slums hängen. Sie sind zwar traurig, Ende Dezember ihr komfortables Leben aufgeben zu müssen, aber es ist für sie keine Tragödie, denn sie passen sich als Nepalesen besser als wir an jede neue Situation an.
Gute Nachrichten gibt es von „unseren" Madhesis, die lieber als „Maute" bezeichnet werden und die wir seit Jahren betreuen. Endlich konnten sie von der Müllhalde Kathmandus, in der sie lebten, wegziehen. Sie wohnen jetzt an einem sauberen Ort namens Ghattaqhar. wo wir Blechräume, einen Brunnen, einen Duschplatz und Toiletten haben bauen lassen. Es ist für sie eine Riesenerleichterung zu wissen, dass sie hier 5 Jahre lang in Sicherheit leben können, ohne Gefahr zu laufen, verjagt zu werden. Besonders die Kinder meinen, dass sie oft glauben, zu träumen: Jetzt erscheinen sie sauber und gepflegt in der Schule und werden nicht mehr von den anderen Schülern gehänselt. In der Mitte der Siedlung haben wir ein Klassenzimmer mit den Tischen und Bänken aus Banshighat eingerichtet.
Die Kinder betrachten diesen Raum als das Kostbarste, was sie je gehabt haben, und benehmen sich dort, als wären sie in einem Tempel! Langsam bemühen wir uns, die Frauen zu motivieren, andere Einnahmequellen als Betteln zu finden. Eine von ihnen, Rashmi, ging ein paar Monate in die Lehre bei einer Schneiderin, und wir haben jetzt für alle eine Nähmaschine gekauft. Rashmi bringt den anderen Frauen das Nähen bei, während einige von ihnen daran denken, gebratene, nepalesische Snacks auf der Straße zu verkaufen. Der Weg zur Selbständigkeit ist ein langer Weg, aber eine neue Denkrichtung steht jetzt zumindest fest...
Der Druck der immer schwerer werdenden Lebensumstände und die Hoffnung auf ein besseres Leben bringen immer mehr analphabetische Madhesis, die genau wie unsere Maute-Leute landlos und staatenlos sind, nach Kathmandu. Fünfzehn Familien haben im Viertel Koteshwor ihre Plastikzelte aufgeschlagen und leben dort ohne Toilette und ohne Wasser. Wir haben beschlossen, 30 ihrer Kinder zu alphabetisieren, um sie in 6 Monaten bei Schulanfang einzuschulen. Einer unserer treuen Spender hat uns schon die nötigen 12.000 Euro überwiesen, damit wir sie erst einmal ein Jahr lang mit unserem gehaltvollen Milchbrei versorgen können, und wir müssen sehen, ob uns erlaubt wird, mindestens eine Toilette für sie zu installieren.
Wir betreuen nach wie vor die Kinder des großen Slums von Thapathali. die auch täglich unseren nahrhaften Milchbrei bekommen, und wir versorgen die 1500 Menschen der Gemeinschaft mit Trinkwasser, das wir durch LKWs liefern lassen. Neben dem Covid-19, das genau wie bei uns aktuell bleibt, grassiert seit Monaten das gefährliche Dengue-Fieber in Kathmandu und ganz besonders in Thapathali, wo viele Kinder erkrankt sind.
In diesem Slum herrscht keine Solidarität zwischen den Menschen. Neid und Misstrauen haben Vorrang, was auch unsere Arbeit erschwert. Alle Menschen leben zwar in Plastikhütten, aber manche sind wohlhabender als andere, und die, die es besser haben, bestehen darauf, dieselben Vorteile von unserer Unterstützung zu bekommen wie die Ärmsten. Das große Problem ist, dass keiner genau sagen kann, wer wirklich bedürftig ist und wer nicht. Wir machen schon Unterscheidungen, weil wir Zugang zu den Hütten haben und deshalb genau wissen, wie die Familien leben.
Wir bezahlen die Schulgebühren für die Hälfte der Kinder und erfahren außerdem von den Lehrern, welche Schüler mit völlig verwahrloster Uniform und sogar ohne Schuhe in die Schule kommen, so dass wir dann bestimmten Familien gezielt beistehen können. Dass wir diese Unterscheidungen machen, bringt uns von manchen Menschen allerdings sehr unangenehme, feindselige Blicke. Obendrein nehmen Kriminalität, Drogenabhängigkeit und Prostitution im Slum von Thapathali immer mehr zu.
Es ist nicht neu, dass die Regierung den Slum räumen will und es dann doch nicht tut. Dieses Mal sind aber die Slumbewohner besonders ängstlich, weil gerade der neue zielstrebige Bürgermeister Balendra Shah die Situation jeder Familie genau prüfen will. Danach sollen die wirklich Armen an eine andere Stelle gebracht werden, wo, so sagt man, für sie gesorgt wird. Die anderen werden sehen müssen, wie sie zurechtkommen.
Balendra Shah will die Ufer des Bagmati Flusses in öffentliche Stadtgärten verwandeln. Eine chinesische Firma ist schon am Werken und hat bereite freie Stellen des Flussufers sehr schön gestaltet. Wir haben in den letzten 33 Jahren gelernt, uns an die nepalesischen Gegebenheiten anzupassen, ohne unser Ziel aus den Augen zu verlieren: die bedürftigen Kinder mit Ihren Spenden auf die sinnvollste und wirksamste Art zu unterstützen. Nach diesem Prinzip arbeiten wir heute noch weiter. Wir bedanken uns von Herzen noch einmal bei Ihnen und wünschen Ihnen allen schöne Weihnachten und ein gutes, gesundes neues Jahr 2023.
Herzliche Grüße,
Elisabeth Montet