Liebe Freunde,
der Monsun, der wie jedes Jahr pünktlich am 13. Juni in Nepal eintraf, hat die üblichen Seuchen und Naturkatastrophen mit sich gebracht. Die Regierenden wissen, dass dann Riesenüberschwemmungen den Süden des Landes verwüsten und dass Erdlawinen ganze Bergdörfer verschlucken, Straßen unbefahrbar machen und Menschen töten, aber nie wird etwas unternommen, um zu versuchen, diesem Übel vorzubeugen. Immer mehr obdachlos gewordene Bauern ziehen notgedrungen nach Indien, um ihr Glück zu versuchen, in der Hoffnung irgendeine Arbeit zu finden. Malaria, Typhus und Dengue-Fieber befallen von Juni bis Oktober den Süden des Landes und neuerdings auch die Hauptstadt Kathmandu.
Wegen des Klimawandels findet man inzwischen Moskitos auf einer Höhe von 2000 m im Himalayagebirge. Wegen der durch den russischen Angriff auf die Ukraine verursachten Inflation erlebt die ganze Welt eine schwierige Zeit, aber arme Länder wie Nepal sind besonders betroffen. Die Regierung setzt ihre Hoffnung nun auf den Tourismus: 2019 wurde die Zahl der Genehmigungen, die Ausländern für den Aufstieg auf den Mount Everest erteilt wurden, reduziert, weil die gesamte Umgebung des Berges zu einer regelrechten Müllhalde geworden war. Jetzt stehen wieder internationale Bergsteiger Schlange am Fuße des höchsten Bergs der Welt: Allein die Genehmigung für einen Bergsteiger kostet schon 10.000 €, und außerdem zahlt jeder für diese Expedition, die bis zu zwei Monate dauert, 50.000 € bis 90.000 €. Viele nepalesische Bergführer leben von diesem Geschäft, und die Regierung füllt außerdem ihre Kassen. 2019 holten die Chinesen mit einem Mal 8 Tonnen Müll vom Berg herunter, aber seit das Geschäft mit dem Lebensgefährlichen Aufstieg mittlerweile wieder auf Hochtouren läuft, können die Bergsteiger nicht nur neue Müllkippen bewundern, sondern auch mehrere zugefrorene und völlig konservierte menschliche Leichen, die seit Jahren am Wegesrand liegen, ihre Ehre erweisen.
Im letzten April wurde beschlossen, dass auch kleinere Wanderungen im Himalaya ab jetzt nur noch in Begleitung eines registrierten lokalen Führers unternommen werden dürfen. Dies soll die Umwelt schützen und die Sicherheit der Wanderer verbessern, die sich oft verirren, Unfälle haben und nicht selten ohne Hilfe ihr Leben dort lassen. Auch so werden natürlich auch Jobs für die Einheimischen geschaffen.
Der Maoistische Regierungschef Dahal war im Mai auf Staatsbesuch in Indien, wo er mit Premierminister Narendra Modi über mehrere gemeinsame Vorhaben sprach. Es wurde ein Vertrag unterschrieben, in dem Nepal Indien die Lieferung von 10.000 Megawatt Strom in den nächsten 10 Jahren zusagt. Um die schon lange bestehenden Unstimmigkeiten mit dem Hindu-Nationalisten Modi zu glätten, zögerte der Atheist Pushpa Kamal Dahal nicht, das Safran Kleid der Hindus überzuziehen, bevor er mit seinem Gastgeber mehrere Tempel besichtigen und beehren musste. Das nepalesische Budget für dieses Jahr ist im Mai endlich beschlossen worden, aber die finanziellen Mittel für die wichtigsten Projekte fehlen: Der Bau von 400 kleinen Krankenhäusern, die 2023 im ganzen Land entstehen sollten, wurde aus Geldmangel auf „später" verschoben, obwohl Ärzte laut und deutlich klagten, dass die Reduktion der Finanzen für das Gesundheitsministerium fatale Folgen haben werde.
Währenddessen bleibt der Bürgermeister Kathmandus Balendra Shah nicht inaktiv: Er fährt mit dem Saubermachen der Stadt fort und verlangt, dass elektrische Leitungen, Telefon- und Internetkabel unterirdisch verlegt werden. Dabei stößt er aber bei den Behörden auf taube Ohren. Nach mehreren Monaten gab ihm das nepalesische Obergericht Recht: Die Slums Kathmandus werden, wie er es möchte, zerstört, aber erst, wenn geprüft worden ist, wer von den 5000 offiziellen Slumbewohnern der Hauptstadt wirklich arm ist. Nur nachdem man den Ärmsten eine Unterkunft zur Verfügung gestellt hat, darf mit der Räumung begonnen werden. Das heißt, dass sich für längere Zeit gar nichts ändern wird! Dies ist eine Ohrfeige für unseren inzwischen umstrittenen Bürgermeis¬ter, der sich nicht gern geschlagen gibt. Als Antwort auf das Urteil fing er an, einen von seinen alten Kämpfen wieder ins Leben zu rufen: Das nepalesische Gesetz verordnet, dass alle Krankenhäuser Kathmandus den Bedürftigen 10 % ihrer Bettkapazitäten kostenlos zur Verfügung stellen müssen. Das tut natürlich kein Krankenhaus.
Schon vor 6 Monaten hatte „Baien" - so wird er von seinen Anhängern genannt - beim Gesundheitsminister um eine Privataudienz gebeten und verlangte von ihm, dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz eingehalten wird. Da nichts geschah, besuchte er den Minister nun ein zweites Mal, um ihm mitzuteilen, dass, falls die Krankenhäuser innerhalb von 7 Tagen das Gesetz nicht einhielten, er, Balendra Shah, sie vor Gericht ziehen werde .Eine Woche später appellierte der Minister immerhin an alle medizinischen Einrichtungen, sich an das Gesetz zu halten, bis heute ohne Erfolg.
Jetzt, da sie wissen, dass ihre Siedlung in der nächsten Zeit nicht geräumt werden kann, weil die Behörden nicht so schnell in der Lage sein werden, für sie eine Herberge zu finden, sind die 1500 Bewohner von Thapathali wieder in ihre alte Lethargie verfallen. Durch die steigenden, schier unbezahlbaren Preise sind sie ärmer denn je, und es sind die Frauen, die in den meisten Familien durch Arbeit auf Baustellen ihre Kinder über die Runde bringen. Viele Männer sind arbeitslos, trinken selbstbrauten Reisschnaps und verlangen abends, dass ihre Frauen ihre „ehelichen Pflichten" erfüllen. Dies verursacht im Slum große, laute Streite, die unfreiwillig zur Unterhaltung der Nachbarn beitragen.
Die Frauen von Thapathali wollen keine Kinder mehr und haben am Sex überhaupt kein Interesse, sagen sie. Die Männer, die früher zu Prostituierten gingen, haben mittlerweile dafür kein Geld mehr, und sogar in diesem Gewerbe herrscht Arbeitslosigkeit.
Dass der Bürgermeister B. Shah den vielen Armen der Hauptstadt verboten hat, kleine Geschäfte auf der Straße zu betreiben, ist ein großes Problem geworden: Videos erscheinen im Internet, die gewalttätige Polizisten beim Angriff auf Straßenverkäufer zeigen. Nicht nur, dass diese blutig geschlagen werden, sie werden auch ihrer Ware beraubt, wodurch der Zorn der Menschen wächst.
In Thapathali haben einige Frauen am Eingang des Slums Karren aufgestellt und verkaufen Tee und Snacks an die Angestellten einer nah gelegenen Firma und an die Fahrer, die im Auto auf dem Parkplatz vor dem Slum auf ihre Bosse warten. Obwohl eine kleine Polizeistation am Eingang der Siedlung steht, ist es für Frauen nicht sicher, nach Einbruch der Dunkelheit allein durch die Gassen zu gehen. Abgesehen von den Touristenvierteln, die von der Polizei überwacht werden, ist es ohnehin in ganz Kathmandu heute nicht mehr sicher.
Die Madhesis. unsere „Maute"- Leute, deren Kinder wir schon so lange betreuen, tun ebenfalls ihr Bestes, um zu überleben. Der zweite Teil der Sippe hat endlich Wellblechunterkünfte gefunden, und hat es nun besser als zuvor unter ihren Plastikhütten. Die Frauen haben uns inzwischen gestanden, warum sie sich weigern, zu arbeiten: Es sind die Männer, die es ihnen kategorisch verbieten, sagen sie. Sie dürfen nur kochen, waschen, sich um die Kinder kümmern und betteln, so wie es in dieser Sippe seit Jahrzehnten Tradition ist. Diese Männer sind zwar höflich, begegnen uns aber immer mit Distanz. Wenn wir Regelungen, die ihnen nicht passen, in die Gemeinschaft einführen würden, würden sie nicht zögern, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen und zu verschwinden. Außerdem haben die Frauen ihnen bei allem zu gehorchen.
Bei dieser ethnischen Gruppe würden sich die Frauen nie weigern, mit ihren Männern zu schlafen, denn sie sehen Kinder als eine Art Altersversicherung: Je mehr Kinder desto mehr Chancen, im Alter jemanden zu haben, der sich um sie kümmert. Im Süden Nepals, wo sie herstammen, müssen sie völlig verschleiert herumlaufen und dürfen nicht allein aus dem Haus. Aus diesem Grund wollen sie unbedingt in Kathmandu bleiben, wo die Sitten nicht so streng sind.
Da die Männer ihre selbstgemachten Pflanzenarzneien nicht mehr auf den Straßen der Hauptstadt verkaufen dürfen, versuchen sie jetzt ihr Glück in ferneren Dörfern, in denen sie unter den armen Bauern Kunden finden. Sporadisch kümmern wir uns um die Kinder einer anderen Madhesi Sippe, die allerdings alle drei Monate weiterzieht und dann regelmäßig wiederkommt. Die Kinder dieser Menschen gehen nicht zur Schule und wollen das auch überhaupt nicht. Die Sippe führt seit jeher ein Nomadenleben und wohnt unter bunten Stoffzelten. Die Männer verkaufen sich als Schreiner und die Frauen sammeln alte Kleider, die sie zu Kleinteppichen oder Waschlappen verarbeiten, um sie anschließend zu verkaufen. Gerade weil sie arbeiten, schätzen wir sie sehr, aber eine Veränderung zu einer besseren Hygiene ist bei ihnen schwierig, weil sie nicht sesshaft sind.
Wir danken Ihnen allen für Ihre treue Unterstützung und melden uns im Dezember wieder mit Neuigkeiten aus Kathmandu und den Spendenquittungen für 2023.
Herzliche Grüße
Elisabeth Montet