Liebe Freunde
dieses Jahr ist der Monsun, der sonst in Nepal Mitte Juni erwartet wird, sechs Wochen zu früh eingetroffen. Mit dem starken Regen beginnt das Einpflanzen der Reisstecklinge, eine Tätigkeit, an der viele Nepalesen mit Freude teilnehmen, weil sie der Anlass zu Feierlichkeiten ist. Dieses Mal war der Regenfall aber so heftig, dass viele Stecklinge weggespult wurden und der Dünger, der früher aus Russland und der Ukraine kam, nicht mehr verfügbar ist. Dazu kommen Riesenüberschwemmungen, die vielen Leuten, besonders im Süden des Landes, die Lehmhäuser wegspülen, und in den Bergen verursacht der Regen zahlreiche Erdlawinen, die die Bauern obdachlos machen, Straßen zerstört und entfernte Dörfer isoliert. Nicht nur alle Krankheiten, die in dieser Jahreszeit durch versch¬mutztes Wasser verbreitet werden, wie Typhus, Hepatitis A, E und Durchfall plagen die Bevölkerung.
Zurzeit entwickelt sich ebenfalls eine Cholera Epidemie, die den Medizinern große Sorgen bereitet. Das Gesundheitsministerium hat die WHO um Hilfe gebeten und verteilt orale Impfdosen in den am meisten betroffenen Regionen. 80% des Trinkwassers, das den Nepalesen zur Verfügung steht, ist mit fäkalen Bakterien verseucht. Diese schädlichen Keime sind auch im Wasser enthalten, das in Flaschen oder in Plastikkanistern ver¬kauft wird, so dass auch dieses Wasser jetzt abgekocht werden muss. Das können sich die Armen nicht leisten, weil Gas und Strom für sie unbezahlbar geworden sind. Die wirtschaftliche Globalisierung, die zurzeit die ganze Welt aus der Balance geraten lässt, trifft arme Länder wie Nepal besonders hart: Erst haben die zwei Jahre Covid Krise ohne Tourismuseinnahmen das Land sehr geschwächt, und jetzt kommt der Krieg in der Ukraine dazu: Lebensmittel, Mieten, Schulgebühren und Transportmittel sind für die meisten viel zu teuer geworden. Besonders im Süden des Landes, aber auch in den Städten, wächst die Mangelernährung der Kinder: Viele bekommen morgens nur noch ein Paar Kekse von ihrer Mutter, um in der Schule ihren Hunger zu stillen, und es gibt abends nur einen Teller Reis mit etwas Linsensauce.
Die Mitglieder der Regierung kümmern sich weiterhin nicht richtig um die Probleme des Volkes. Bei den letzten Kommunalwahlen siegte die Indien orientierte Nepal! Congress über die linken Parteien, die eher China als Nepals Partner bevorzugen. Im nächsten November finden die Parlamentswahlen statt, und viele Beobachter denken, dass die politische Richtung des Landes sich wieder einmal ändern könnte.
Die Einwohner aller Slums Kathmandus leiden natürlich besonders sehr unter der neuen wirtschaftlichen Krise und den von der Regenzeit hervorgerufenen Krankheiten. Im Slum von Banshigat. der sonst als rela¬tiv entwickelten Slum gilt, sind die vor ein paar Jahren mit unserer Hilfe gelegten Kanalisationen durch den Druck des Regenfalls brüchig geworden, und Kot und Abwasser fließen an mehreren Stell der Siedlung heraus. Eine neue Kanalisation müsste dringend professionell hergestellt werden, aber dazu fehlt das Geld.
Auch wir können bei solchen Problemen keine Hilfe mehr leisten, weil Kinderhilfe Nepal durch die Preiserhöhungen und die Inflation sich auf das Wesentliche konzentrieren und ihre Unterstützung leider begrenzen muss. Wir kümmern uns nach wie vor um die Kinder, die im Kindergarten von uns ihren nahrhaften Milchbrei bekommen und medizinisch betreut werden. Die Einwohner Banshigats sind nicht so passiv wie die Menschen aus anderen Slums. Dank unserem Kindergarten können die Frauen auf Bau/stellen arbeiten oder selbst gebratene Snacks auf der Straße verkaufen, um dazu zu verdienen. Diese Leute sind durch unsere 15-jährige Präsenz im Slum Hygiene bewusster geworden. Sie bemühen sich wegen der defekten Kanalisationen vorsichtig zu sein, und wir helfen ihnen, das von uns gelieferte Trinkwasser mit Entkeimungstabletten zu desinfizieren.
Im Slum von Thapathali ist die Mangelernährung der Kinder und der Erwachsenen am größten. Wenn einer der 1500 Einwohner ernsthaft krank wird, wird Geld unter den Slum Leuten gesammelt, aber die notwendige Summe kann nie erreicht werden: Ärztliche Kosten und Operationen sind jetzt genauso teuer wie in Europa, und eine Krankenversicherung kann sich niemand leisten. Entweder leihen sich diese Menschen Geld untereinander und sind hoffnungslos verschuldet, oder sie sterben. Die koreanischen Christen, die sich am Anfang ihrer Tätigkeit bemüht hatten, die Bewohner von Thapathali zu unterstützen, haben jetzt bei ihrer Missionsarbeit ihre Taktik geändert: Früher boten sie allen Kindern des Slums eine Nachhilfestunde an. Seit Kurzem kümmern sie sich aber nur noch um die Kinder von zum Christentum konvertier¬ten Familien. Die Kinder von Buddhisten oder Hindus werden abgelehnt und nach Hause geschickt. Diese Vorgehensweise bringt immer mehr Zorn unter die Menschen des Slums, die jetzt den Christen gegenüber aggressiv werden. Eine Frau, die die Messe dieser Missionare besuchte, fing plötzlich an, sich merkwürdig zu verhalten, und man erzählt sich überall in der Siedlung, dass Jesus daran schuld sei.
Muna geht früh morgens von Hütte zu Hütte, und klärt zurzeit Mädchen und erwachsene Frauen über die Wichtigkeit von Körperhygiene auf. Die meisten von ihnen erkranken in dieser heißen und feuchten Jahreszeit an Pilzin¬fektionen. Die Nepalesen, auch die von der Mittelklasse, benutzen kein Toilettenpapier. Nach dem Toilettengang benutzen sie die linke Hand und reinigen sich mit Wasser. Danach trocknet man sich nicht ab, und da Frauen billige Polyester Unterwäsche aus China tragen, sind Infektionen schwer zu vermeiden. Die Menschen unserer Madhesi Sippe, unsere .Maute" Leute, haben dieses Problem nicht, weil sie wie alle Ärmsten Nepals gar keine Unterwäsche tragen, sodass ihre Geschlechtsteile besser „belüftet" sind... Wir hatten uns seit einem Jahr bemüht, einen besseren Wohnort als die Müllhalde, in der sie schon so lange leben, zu finden. Die ganze Mühe war vor Vertragsabschluss jedes Mal umsonst, weil die künftigen Nachbarn sich weigerten, sie in ihrer Nähe leben zu lassen. Die Lage wurde uns zur großen Belastung und erschien uns aussichtslos. Wir machten der Sippe klar, dass wir aufhören würden, sie zu unterstützen, wenn sie weiterhin mitten im Müll lebten. Sie waren sehr betroffen und traurig, konnten aber begreifen, dass es inakzeptabel und äußerst gefährlich für sie und ihre Kinder war, an diesem verseuchten Ort zu bleiben.
Fast gleichzeitig wendete sich zum Glück das „Schicksal" wieder zum Guten: Wir fanden einen netten Mann, der bereit war, uns ein Grundstück 5 Jahre lang für die lächerliche Summe von 20 € im Monat zu vermieten. Blechhütten wurden sofort von uns gebaut, einen Brunnen gebohrt und Toiletten installiert. Bald findet der „Umzug" statt. Unsere Maute Leute sind im siebten Himmel, weil sie, so sagen sie immer wieder, zum ersten Mal in ihrem Leben in einem „richtigen Haus" wohnen werden.
Die Sippe sagt, dass sie bereit ist, sich anzupassen und dass alle auf ihre Nachbarn Rücksicht nehmen wer¬den. Nachbarn sind in Nepal ohnehin immer sehr laut, man ruft sich von Haus zu Haus, und jeder weiß sehr genau, was im nächsten Gebäude geschieht. Die Lautstärke unserer Sippe ist aber maßlos, und wir werden sehen, wie das Zusammenleben mit der etwas „vornehmeren" Gesellschaft der Hauptstadt laufen wird. Bis jetzt hat sich niemand über das Vorhaben beklagt, und wir hoffen, dass es klappen wird. Eine Hütte wird als Kindergarten dienen, und die Kinder werden weiterhin unseren mit Vitaminen und Mine¬ralien angereicherten Milchbrei bekommen, in die Schule gehen und von uns medizinisch betreut werden.
Wir melden uns Ende des Jahres wieder und berichten über den Werdegang der Kinder und Erwachsenen, die wir in Kathmandu unterstützen. Zurzeit ist die nächste Zukunft für die ganze Welt unsicher und nicht voraussehbar. Der große Unterschied zwischen uns und den Nepalesen ist, dass sie zu sehr damit beschäftigt sind, sich und ihre Familien mit existentiellen Dingen wie Wasser und Reis zu versorgen, um neugierig auf die Weltlage zu sein und sich ihrer eigenen Situation bewusst zu werden. Vielen Dank an Sie alle, die trotz aller Widrigkeiten diese Menschen nicht vergessen.
Herzliche Grüße
Elisabeth Montet