Kinderhilfe Nepal e.V.


Rundbrief August, 2015

Liebe Freunde,

die wenigen Ausländer, die sechs Wochen nach dem Erdbeben nach Kathmandu kamen, waren sehr erstaunt und fragten sich, ob hier ein Erdbeben wirklich stattgefunden hatte. Im Fernsehen war NUR Zerstörung gezeigt worden, und man hätte glauben können, dass die Hälfte der Hauptstadt zerstört worden sei. Natürlich wurden die meisten Tempelanlagen und manche Gebäude beschädigt oder gar zertrümmert, aber nur in der Altstadt oder am Rande Kathmandus. Unter den ca. 10.000 Menschen, die bei der Katastrophe umkamen, starben "nur" 1.500 Menschen in der Hauptstadt, aber sobald man die Stadt verlässt, dann stellt man erst fest, wie groß der Schaden für die ohnehin schon bedürftigen Bauern gewesen ist. Die meisten Unterkünfte, die aus Lehm und Steinen gebaut waren, sind völlig vernichtet. Der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle des Landes, und die einseitigen Fernsehberichte zur Zeit des Erdbebens sind dafür verantwortlich, dass die vielen Menschen, die davon leben, keine Einkünfte mehr haben, weil sich niemand mehr nach Nepal traut. In Wahrheit sind "nur" drei der 35 Trekking Routen des Himalayas unbenutzbar, und "nur" 11 der 75 Distrikte wurden von der Katastrophe betroffen.

Menschenhändler profitierten allerdings von der verzweifelten Lage umherirrender, verlorener Kinder und Frauen, um sie ins Ausland zu verkaufen. Die Regenzeit hat weitere Desaster mit sich gebracht: Der Monsun erweicht den vom Beben schon durchgeschüttelten Erdboden und löst Erdlawinen aus, die ganze Dörfer verschlucken.'

Die nepalesische Regierung, die unfähig war, ihren Landsleuten sofort beizustehen, hat alles getan, um den Einsatz der internationalen Hilfe zu erschweren: Hilfsteams mussten mehrere Tage lang auf die Genehmigung warten, um in die am schwersten betroffenen Gebiete zu gelangen. Die Medien fingen an, ausländerfeindliche Gefühle zu streuen, in dem sie negatives über die Hilfsaktion verbreiteten: Dass unter den 6.500 Tonnen Reis, die das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen an die Erdbebenopfer verteilte, 102 Säcke verrottet und ungenießbar waren, machte wochenlang Schlagzeilen in den Zeitungen.

Vier Wochen nach dem Desaster verbot die Regierung Geldüberweisungen von Ausländern auf private Konten von befreundeten Nepalesen. Sie wollte die eintreffenden Devisen selbst verwalten und kontrollieren. Selbst uns wurde dreimal von Männern aus verschiedenen politischen Richtungen unfreundlich gesagt, wir sollten der Regierung unser Geld geben und nach Hause fliegen! Der Groll gegen die weißen Angestellten der großen Hilfsorganisationen, die in Nepal arbeiten und für nepalesische Verhältnisse sehr hohe Löhne bekommen, wird immer größer, weil die ausgebildeten Nepalesen denken, dass SIE diese Stellen haben sollten, und kein Ausländer. Früher wurden nur Inder diskriminiert, weil sie über einen großen Teil des Handels in Nepal herrschen. Jetzt sind wir, die Weißen, bei vielen Leuten, die im Wohlstand leben, nicht mehr Willkommen. Dafür bleiben uns die Bedürftigen sehr freundlich gesinnt, weil sie äußerst dankbar sind, überhaupt von jemandem Hilfe zu bekommen.

Jenen Menschen, die wir in den Slums seit langer Zeit unterstützen, ist nichts passiert, denn sie leben ja nur unter Plastikplanen. Während der zwei Monate nach der Katastrophe mussten wir sie aber mit Reis, Linsen und Bohnen versorgen, weil sie das tägliche Essen für ihre Familie auf Baustellen oder als Haushaltshilfen plötzlich nicht mehr verdienen konnten. Jetzt hat in Kathmandu der normale Alltag wieder angefangen, und unser Einsatz in den Slums von Banshigat und Thapathali läuft genauso wie vor dem Erdbeben. Die Maute Nomaden, die im Begriff waren, den Sommer in Nepal zu verbringen, sind dieses Jahr lieber nach Indien gezogen.

Unser Spendenaufruf nach der Katastrophe hat dem Verein ca. 80.000 € gebracht, und dank Ihrer Großzügigkeit konnten wir die 80 obdachlosen Familien aus dem Dorf Mudhku rechtzeitig vor dem heftigen Monsun durch feste provisorische Unterkünfte aus Bambus und Tarpaulin schützen. Diese Arbeiten wurden innerhalb von sechs Wochen von Munas Bruder SANTOSH erfolgreich organisiert und beaufsichtigt und haben uns 34.000 € gekostet. Die Schule von Mudhku, die 500 Kinder aus der ganzen Umgebung betreut, wurde auch zertrümmert. Über 5000 Schulen des Landes wurden vom Erdbeben vollig zerstört.

Damit die Kinder dem Unterricht weiter beiwohnen konnten, haben wir für Mudhku eine Schule aus dickem galvanisiertem Wellblech für 16.000 € gebaut. Die Einrichtung wird länger als 10 Jahre gute Dienste leisten, bis die Regierung sich vielleicht irgendwann damit beschäftigt, die von der internationalen Gemeinschaft gespendeten 4,4 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau Nepals sinnvoll zu verwenden. Jetzt würden wir gern diesen Menschen, die alles verloren haben, helfen zu einer dauerhaften erdbebensicheren Behausung zu kommen, und wir sind im Gespräch mit nepalesischen Architekten. Unser Vorhaben scheint uns im Moment etwas unrealistisch zu sein, weil die Baumaterialien in Nepal fast genau so teuer wie in Deutschland sind. Um ein einfaches, aber sicheres Haus zu bauen, das sich äußerlich der nepalesischen Tradition anpasst, brauchten wir mindestens 6000 €. Das heißt 480.000 € für die 80 Häuser. Es ist eine Menge Geld... Wir haben zurzeit das Geld für 10 Häuser und werden so bald wie möglich für die 10 ärmsten Familien anfangen zu bauen, bis wir mehr Geld für die anderen finden.

Die Erdbebenopfer erwarten nichts von ihrer Regierung und haben auch an uns keine Erwartung. Sie sind nur dankbar, im Trockenen leben zu können und fragen sich nicht, wie es mit ihnen weitergehen könnte. Ihre einzige Sorge liegt darin, von einem Tag zum anderen zu überleben. Es steht fest, dass die 4,4 Milliarden Dollar Hilfe mit Priorität für den Wiederaufbau der Infrastruktur des Landes und der alten Tempel benutzt werden sollen. Die Hilfsländer haben ernsthaft darauf hingewiesen, dass diese riesigen Summen auf durchsichtige Weise verwendet werden sollten, damit diese finanzielle Unterstützung nicht an den korrupten Gewohnheiten der Beamten scheitert. Und trotzdem erwarten die Armen nichts, weil sie aus Erfahrung wissen, dass Hilfsgelder unterwegs irgendwo verschwinden, bevor sie diejenigen erreichen, die sie am meisten brauchten. Dies ist auch der Grund, warum Hilfsorganisationen es vorziehen, sie möglichst direkt und vor Ort zu unterstützen.

Um die Übersicht über unseren Einsatz zu behalten, möchten wir uns auf unsere Slums und auf das Dorf Mudhku konzentrieren. Das Dorf besteht aus kleinen Häusergruppen, die sich über viele Kilometer in die Berge erstrecken. Weil das Beben die Erdbodenschichten so stark durchgeschüttelt hat, sind auch in Mudhku alle Wasserquellen versiegt, aber die Dorfbewohner beklagen sich nicht, denn sie seien von Geburt an daran gewöhnt, viele Kilometer zu laufen, um Wasser zu holen, sagen sie. Mudhku zählt ca. 200 Familien. Die Hälfte von ihnen gehört zu der im Hinduismus als "höchsten" gesehenen Kaste der Brahmanen an, die andere Hälfte gehört zur "niedrigsten" Kaste der "Unberührbaren", die in diesem Dorf als Schneider arbeiten, aber niemals das Haus eines Brahmanen betreten dürfen. Brahmanen würden nie den Teller oder das Glas von Unberührbaren benutzen. Der Unterschied zwischen den zwei Kasten hat das Erdbeben deutlich gemacht: Die besser gebauten Häuser der Brahmanen stehen noch, während die Unberührbaren alles verloren haben.

Santosh und Muna sind auch "unberührbar", und als Muna vor zwanzig Jahren nach Kathmandu zu uns kam, mussten wir ihren Namen ändern, um ihre Herkunft zu verbergen. Zu dieser Zeit waren Unberührbare in Kathmandu ausschließlich für das Reinigen von Toiletten zuständig; eine Arbeit, die nur sie verrichten durften. Heute dürfen sie laut Gesetz nicht mehr diskriminiert werden. Aber die Kastentrennung in der Gesellschaft bleibt heute noch lebendiger als je zuvor.

Vielen Dank an Sie alle für Ihre wertvolle Unterstützung! Ihre Spendenquittung schicken wir Ihnen im Dezember. Und falls Sie Ideen hätten, wie wir den Wiederaufbau von Mudhku verwirklichen könnten, bitte melden sie sich bei uns!.

Herzliche Grüße

Elisabeth Montet