Liebe Freunde,
wer sich seit so vielen Jahren um ein Projekt in Nepal kümmert, erlebt immer wieder schwierige Zeiten, in denen die Ungeduld der' nepalesischen Passivität gegenüber zunimmt und man sich dann wie ein Narr fühlt, der den Himalaja zu verschieben versucht. Daher kommt es nicht selten vor, dass Hilfsprojekte nahe am "Dach der Welt" nicht länger als 3-5 Jahre bestehen. Die stillstehende politische Situation des Landes scheint auf die Psyche und das Verhalten seiner Einwohner abzufärben. Noch nie m den letzten 18 Jahren war Nepal in einem solchen chaotischen, undurchsichtigen Zustand. Die maoistischen Rebellenchefs, seit drei Monaten Teil der Regierung, werden von der Basis aufgefordert, ihre Posten zu verlassen und den Kampf wieder aufzunehmen. Ihre Bewegung hat sich inzwischen in viele bewaffnete Gruppen aufgesplittert. Die amtierende Regierung schweigt auf unheimliche Weise genau so wie Zeitungen und andere Medien.
Also protestieren die Intellektuellen des Landes wieder einmal gegen. die Presseunfreiheit. Tägliche Unruhen und die schweren von der Monsunzeit verursachten Überschwemmungen paralysieren das Land. Jeder Tag wird zum neuen Abenteuer: Behandelt z.B. ein Polizist einen Taxifahrer unsanft, so wird das ganze Kathmandutal lahm gelegt, alle Läden werden geschlossen, und es traut sich keiner mit einem Auto auf die Straße, denn jedes Fahrzeug wird dann von zornigen Taxifahrern zerstört oder verbrannt. Meistens weiß man auch überhaupt nicht, warum die Stadt tot ist und die 1,5 Millionen Einwohner zu Hause bleiben. Wen es überhaupt interessiert, erfährt nur abends mit großer Mühe, warum er nicht zur Arbeit konnte. Denn auch wenn sie dabei einen Tag Lohn verlieren, bleiben viele Nepalesen gern zu Hause und spielen Karten oder schauen billige indische Filme. Wenn das Leben funktioniert, ist es wiederum sinnlos, mit einem Auto zu fahren, weil niemand die Verkehrsregeln respektiert und jeder mit einer unglaublichen Bösartigkeit voranzukommen versucht. Dann kann man drei bis vier Stunden in einem Verkehrschaos stecken bleiben, wo sich mehrere Autoschlangen ohne jede Ausweichmöglichkeit gegenüberstehen. Falls ein Polizist in der Nähe ist, dann lacht er dämlich vor sich hin und pfeift sinnlos herum. Und dies obwohl im Moment weniger Autos unterwegs sind, weil es in der Hauptstadt an Benzin und Diesel mangelt: Die ethnischen Gruppen des Südens protestieren für mehr Rechte und Teilnahme am politischen Leben und blockieren deshalb die Straßen nach Kathmandu. Niemand weiß, wie die Zukunft aussehen wird in einem Land, wo aggressive Gruppen jeden Tag entstehen, die um eigene Vorteile kämpfen. In Wahrheit weiß keiner genau, wer wer ist. Man weiß nur, dass jeder jetzt an moderne chinesische Waffen herankommen kann und täglich mehrere Morde im Land begangen werden. Die Maoistenführer nutzen diese unstabile Situation, um jetzt für jeden Berufszweig Gewerkschaften zu bilden, die während der Wahlen im Herbst als ein organisiertes politisches Netzwerk tätig werden sollen. Die Regierung, die für Sicherheit und Ordnung sorgen sollte, bleibt inaktiv, und, wie üblich, läuft das Gerücht, dass die Großmächte USA, Indien (und der König) hinter dem ganzen Debakel stecken würden... Währenddessen versuchen alle "Wohlhabenden" mit allen Mitteln, das Land zu verlassen, um in Australien, England oder den USA neu anzufangen.
Children's World und die Menschen in den Slums fühlen sich von dieser Situation nicht betroffen, denn wir sind ja da, um ihnen unter die Arme zu greifen. Also sind sie passiver denn je, bemühen sich aber den gemeinsam erarbeiteten Aufgabenplan auszuführen. Sie fühlen sich offensichtlich in dem von der Kinderhilfe Nepal aufgebauten "Paradies" sehr wohl! Meena, die das ganze Projekt leitet, hilft Sija und ihrem Team, mit mühevollem Einsatz, die hygienischen Verhältnisse zu verbessern. Trotzdem müssen ansteckende Eiterausschläge und Abszesse sowie zahlreiche andere Krankheiten täglich bekämpft werden. In der Regenzeit vermischen sich Fäkalien mit dem Grundwasser.
Vor drei Monaten hatten wir eine Leitung gelegt, damit das einigermaßen saubere Regierungswasser die Slums erreicht. Das zuständige Ministerium hat aber beschlossen, erst im nächsten November die Leitung an das Netz anzuschließen.
Wir sind dabei, weitere Toiletten und auch Duschen zu bauen. Die Frauen arbeiten weiter treu mit uns zusammen, was uns wirklich motiviert. Sie kommen regelmäßig zur Abendschule und können jetzt schreiben und lesen. Aber sie wollen unbedingt weiterlernen, Zeitungen lesen können und. Wie sie selbst sagen "intelligenter" werden und nicht dahin vegetieren und darauf warten, dass die Männer im täglichen Leben die Initiative ergreifen, war sie ohnehin nicht tun. Da die Gewalttätigkeit der Männern ihrer Frauen gegenüber durch das Handeln des "Frauenverteidigungskommandos" aufgehört hatte, wurde deren Tätigkeit eingestellt, aber schon nach 2 Monaten kommen morgens wieder manche Frauen mit einem blauen Augen aus ihrer Hütte. Die solidarischen "Schwestern" organisieren sich also neu und nehmen mit ihren Stöcken ihre nächtlichen Patrouillen durch die Siedlung wieder auf.
Wir hatten uns entschlossen, die 35 jährige Juma Chaudary zu unterstützen, indem wir ihr eine Herzklappe ersetzen lassen wollten, aber der Herzchirurg meint, dass die Chance, daß sie bei der Operation stirbt, 95% beträgt, weil sie zu spät ins Krankenhaus kam und es sieht so aus, als würde er bis jetzt nicht wagen, den Eingriff durchzuführen.
In Children's World wird nach wie vor gepaukt, und vier unserer Mädchen werden Anfang 2008 ihr Abitur machen. Unsere blinde Goma geht jetzt wieder in Neu-Delhi zur Universität, weil eine Zukunft in Nepal für sie gleich Null ist. Sie studiert Englisch und ist mit Begeisterung dabei. Deepak hat sich ein ganzes Jahr sehr anstrengen müssen, um sich an die westlichen Unterrichtsmethoden seines amerikanischen Colleges in Thailand zu gewöhnen, die intelligentes Denken fördern und verlangen. Er hat aber sehr gute Noten und hat fest vor, nach seinem Studium als einer der ersten Psychologen in Nepal tätig zu werden.
Das Gefühl der Angst ist wieder in Children's World eingezogen: Nachdem wir uns vor einem Jahr von unserem Pramod für immer verabschieden mussten, ist es Nelson, der uns jetzt Sorgen macht. Er ist von "mesenterischen Lymphknoten", ganz besonders im Bauch, befallen. Im besten Fall leidet er an einer Drüsentuberkulose, im schlimmsten Fall an Drüsenkrebs. Da er erst 3 Jahre alt ist, trauen sich die Ärzte nicht, eine Gewebeprobe zu entnehmen, sondern geben ihm drei Monate lang spezielle Antibiotika und wollen die Situation beobachten. Wir bemühen uns, einen kühlen Kopf zu bewahren, denn schon 2006 war für uns ein schreckliches Jahr und wir weigern uns zu glauben, dass wir eine so dramatische Zeit noch einmal durchmachen müssten.
Während Überschwemmungen der Monsunzeit Tausende von Menschen zu Obdachlosen machen, während überall im Lande Gewalt tötet und Mangel an Nahrung in-42 der 75 nepalesischen Provinzen herrscht, gibt unser Projekt etwa 400 Kindern und Frauen Sicherheit und die Möglichkeit, ein würdiges Leben zu führen.
Vielen Dank an Sie alle, die dies möglich machen und uns den Mut geben, immer weiter gegen Armut und Passivität zu kämpfen. Sie können überzeugt sein, dass es Ihre treue Präsenz im Hintergrund ist, die uns immer wieder hilft, neue Energie zu schöpfen, um unermüdlich weiterzumachen.
Noch einmal herzlichen Dank für diese wertvolle Unterstützung und alles Gute und Liebe für die nächsten Wochen!
Elisabeth Montet