Liebe Freunde,
anfang des Jahres wurde der ehemalige maoistische Rebellenführer Pushpa Kama Dahal, auch "Pushpa Kama Dahal" - "der Kämpferische"- genannt, zum dritten Mal seit 2008 Ministerpräsident Nepals. Die neue Regierung bildet eine Koalition von acht kleinen Parteien, die von Beginn an ein sehr instabiles Gebilde darstellt, weil sie die zweitgrößte Partei des Landes, die Kongresspartei, völlig ausschließt. Zumindest in der internationalen Politik wird Dahal auf jeden Fall schlau genug sein, um mit den zwei schwierigen Nachbar-Großmächten China und Indien, vernünftig zu verhandeln und gleichzeitig die Nähe zu den USA zu pflegen.
Die Corona Pandemie sowie der Angriffskrieg auf die Ukraine haben die Entwicklungsbemühungen Nepals lahmgelegt, und die durch die weltweite Inflation verursachten Preiserhöhungen der Nahrungsmittel beschwert das Leben von immer mehr Nepalesen. Viele können nur durch das Schicken von Geldern, welche die Familienmitglieder durch Schwerstarbeit im Ausland verdienen, überleben. Obwohl in manchen Bereichen Fortschritte im Lande zu verzeichnen sind, zählt Nepal immer noch zu den ärmsten Staaten der Welt und zu den zehn Ländern, die weltweit vom Klimawandel am stärksten betroffen sind: Riesenüberschwemmungen und Erdlawinen zerstören jedes Jahr ganze Dörfer und neu gebaute Straßen. Ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren leidet aufgrund von Mangelernährung unter Entwicklungsstörungen, und die medizinische Versorgung bleibt wegen der hohen Kosten für die Armen unerreichbar.
Diese Lage bringt uns immer mehr dazu, die unbezahlbaren Operationen und Krebsbehandlungen für die Kinder aus den Slums zu übernehmen. In Kathmandu gibt es inzwischen 72 offizielle Slums, die im letzten Januar dem ehemaligen Rapper und inzwischen Bürgermeister von Kathmandu Balendra Shah den Krieg erklärt haben.
Vor ein paar Monaten hatte er die Räumung des Slums von Thapathali angekündigt, doch niemand wollte an diese Drohung glauben. Im Januar tauchten jedoch früh am Morgen ein Bulldozer und mehrere Poiizeieinheiten in Thapathali auf, und die Menschen wurden aufgefordert, ihre Hütten innerhalb einer Stunde zu leeren, damit sie dann platt gemacht werden konnten. Dies gab den Betroffenen die nötige Zeit, die anderen Slums zur Hilfe zu rufen, und eine Stunde später fingen Tausende von Menschen an, die Polizisten mit Steinen anzugreifen, und der Zugang zum Slum wurde mit brennenden LKW - Reifen gesperrt. Den gesamten Tag über wurde gekämpft, und es gab so viele Verletzte an beiden Seiten, dass die Regierung eingriff, um die Schlacht zu beenden.
Der Bürgermeister Baiendrah Shah ist inzwischen äußerst frustriert, weil nun nicht er, sondern das zuständige Ministerium entscheiden wird, was mit den Slums geschehen soll. Er will nämlich nicht nur den Slum von Thapathali zerstören, sondern alle 72 Slums der Hauptstadt. Das Problem ist, dass nicht nur sehr arme Menschen in den Slums wohnen. Viele Familien, wie im Slum von Banshighat. in dem wir so lange tätig waren, haben sich in den letzten zwanzig Jahren feste Häuser auf staatlichem Boden selbst gebaut. Wir hatten sie oft gewarnt, indem wir ihnen erklärten, dass der Boden ihnen nicht gehöre und dass es ein großer Fehler wäre, ihr mühsam verdientes Geld in Baumaterialien zu investieren. Als gute Nepalesen meinten sie aber, dass alles schon gut gehen würde, denn die Behörden hätten sich über die Jahre nie gemeldet.
Zurzeit befasst sich eine Armee von Rechtsanwälten mit dem Fall, aber die halbarmen, die armen und die ärmsten Menschen aus den Slums müssen jetzt fest damit rechnen, dass sie auf die Straße landen. Die 1500 Bewohner von Thapathali versorgen wir seit Jahren mit Trinkwasser, ihre Kinder bekommen unseren nahrhaften Milchbrei und werden von uns medizinisch betreut. Die Zerstörung ihrer Siedlung steht oben auf der Agenda, und sie sind die Ersten, die obdachlos sein werden. Und nicht nur den Einwohnerinnen und Einwohnern der 72 offiziellen Slums ist Balendra Shah ein Dorn im Auge: in Kathmandu zelten hunderte von Madhesi Sippen aus dem Süden, die unter alten Plastikplanen leben, in der Hoffnung, sich in der Hauptstadt besser ernähren zu können. Der Bürgermeister hat vor einem Monat strikt verboten, in der Stadt zu zelten. Deshalb wachsen jetzt auf leeren Grundstücken kleine Siedlungen von Blechhütten, die mindestens eine Toilette und Grundwasser bieten müssen und den Armen gemietet werden.
Die neue Madhesi Gemeinschaft, um deren Kinder wir uns seit sechs Monaten kümmern, sucht ganz dringend eine solche Behausung, die auch bezahlbar ist. Auch ihre Kinder profitieren von unserem Brei, und unsere Mitarbeiterinnen Muna und Sushma haben die Größeren eingeschult und sorgen für ihre Gesundheit.
Die Madhesi Sippe, die wir seit vielen Jahren unterstützen, unsere ..Maute Leute", wie sie sich gern nennen, können froh sein, dass wir sie rechtzeitig aus der Müllhalde geholt haben und schon in Blechhütten mit Brunnentoilette und Klassenzimmer untergebracht haben. Wir versorgen sie alle mit Trinkwasser, und ihre Kinder bekommen ebenfalls täglich unseren mit Mineralien und Vitaminen angereicherten Milchbrei.
Unsere Mitarbeiterinnen Muna und Sushma geben den Größeren jeden Morgen um sechs Nachhilfeunterricht, bevor sie zur Schule gehen, und alphabetisieren anschließend die Kleinen. Die Kinder können sich nicht mehr vorstellen, wieder im Müll zu leben, und lernen sehr fleißig. Mit den Müttern dagegen haben wir unsere Schwierigkeiten: Seit Monaten bemühen wir uns, sie zu überzeugen, zu arbeiten, um ihre Familie zu er-nähren. Nur eine Frau, Rashmi, hat schon einen Nähkurs hinter sich, und wir bezahlen aktuell den zweiten Fortgeschrittenenkurs für sie. Sie bessert die Kleider der gesamten Sippe mit der Nähmaschine aus, die wir den Frauen zur Verfügung gestellt haben.
Einer unserer Spender wollte Geld in Ausbildungen für diese Frauen investieren, aber sie wurden überall abgelehnt, weil sie weder schreiben noch rechnen können. Wir haben ihnen vorgeschlagen, wie viele andere nepalesische Frauen Gemüse oder Kleidungstücke auf der Straße zu verkaufen. Zunächst waren alle Feuer und Flamme, und wir waren dabei, diesen Verkauf zu organisieren, als die Frauen uns bereits am folgenden Tag mitteilten, dass sie doch nicht arbeiten wollten: Sie müssten sich ja um ihre Babys kümmern, meinten sie, sie müssten kochen, waschen, und die Leute von Kathmandu würden sich ohnehin weigern, Waren von ihnen zu kaufen, weil sie als schmutzig gelten und sowieso wegen ihrer dunklen Hautfarbe diskriminiert werden.
Als wir ihnen enttäuscht antworteten, dass sie einfach nur faul wären, waren sie sehr beschämt. Wir sagten ihnen, dass wir ab sofort ausschließlich den Kindern beistehen und sie, die Erwachsenen, nie wieder mit Grundnahrungsmitteln versorgen würden, wie wir es in der Covid Zeit Monate lang getan haben. Sie würden ohne Ende Kinder gebären, ohne sich zu fragen, ob sie diese ernähren können, anstatt die Verantwortung für sie zu übernehmen. Sehr viele Nepalesen, auch Frauen, tragen den ganzen Tag über Steine auf Bausteilen für fünf € pro Tag nur um ihre Kinder durchzubringen, aber dafür sind unsere „Maute" Frauen und ihre Männer sich scheinbar zu schade.
Es war wieder einmal der „große" Bürgermeister Balendra Shah, der dieses Problem löste, indem er plötzlich den Verkauf von Waren auf der Straße verbot! Das heißt, dass nicht einmal die Madhesi Ehemänner durch den Verkauf ihrer selbstgebrauten Heilmittel etwas Geld nach Hause bringen können, weil ihre Waren von der Polizei beschlagnahmt werden, und sie zusätzlich noch Strafen bezahlen müssen.
Kathmandu sieht mittlerweile durch endlose Staus so grau und verschmutzt wie jede andere asiatische Großstadt aus. Das typische bunte Treiben der Tausenden von Menschen in farbenfrohen Kleidern, die das Bild der Hauptstadt früher belebten, fehlt heute. Diese Menschen werden von dieser Maßnahme sehr hart betroffen: Dadurch, dass sie nicht mehr Snacks, Früchten, Gemüse und andere Waren auf der Straße verkaufen dürfen, können sie das tägliche Essen für ihre Familie nicht mehr verdienen.
Eines ist dem unbeugsamen Bürgermeister von Kathmandu immerhin gelungen: Er hat zum großen Teil die Stadt vom Müll gesäubert, und wer es wagt, seinen Abfall auf der Straße zu werfen, muss Strafen zahlen. Es sieht aber leider so aus, dass Balendra Shah nicht fähig ist, zwischen dem Beseitigen von Müll und dem Entfernen von Menschen zu differenzieren. Er hat eine ganz bestimmte Vorstellung, wie seine Stadt aussehen soll, und es kümmert ihn überhaupt nicht, dass die vielen von seinen Entscheidungen betroffenen Einwohner darunter leiden müssen. Wir tun, was wir seit 34 Jahren immer getan haben: Wir passen uns an und setzen unseren Einsatz so unauffällig wie möglich unbeirrt fort.
Herzliche Grüße
Elisabeth Montet