Liebe Freunde,
die internationale Rezession hat natürlich auch in Nepal gravierend ökonomische Nachwirkungen und man fragt sich, wieviel größer das Elend des Volkes noch werden kann. Eine kleine, für manche aber große Hoffnung hat sich Ende Januar blicken lassen. Eines Tages ging durch Kathmandu das Gerücht, dass die zwei Rebellenführer Dr. Baburam Bhattarai und Prachandra mit einem Armeehubschrauber im Palast mitten in der Nacht gelandet wären und ein fünfstündiges Gespräch mit dem König gehalten hätten. Am folgenden Morgen wurde diese kinoreife Version der Geschichte dementiert, aber die Zeitungen berichteten, dass tatsächlich ernsthafte Verhandlungen zwischen den beiden Parteien stattgefunden hätten. Es wurde beschlossen, daß die Maoisten nicht mehr als "Terroristen" bezeichnet werden dürften und dass ihre Chefs nicht mehr mit einem Kopfgeld von je 65.000 US$
von Interpol gesucht würden. (Auch das doppelt so hohe Kopfgeld, das die Rebellen für den Kopf des Königs als "Gegenleistung" angeboten hatten, wurde natürlich aufgehoben!) Politische Verhandlungen wurden für die kommende Woche angekündigt und die meisten politischen Gefangenen freigelassen. Jetzt, drei Monate später, hat man sich noch nicht auf etwas Konkretes einigen können, aber der Waffenstillstand hält an, und die Armee bringt Nahrungsmittel per Hubschrauber in die Regionen, wo gerade über 25.000 Rebellen verhungern. Für den König war die Lage nicht mehr haltbar, da er wusste, dass er, wenn er so weiter gemacht hätte, seinen Thron verloren hätte, und den Maoisten war klar, dass sie gegen die dem König von Herrn W. Bush geschenkten ultramodernen Waffen nicht mehr ankämpfen konnten. Jetzt wartet man ab, was passieren wird, aber eine für beide Seiten annehmbare Lösung scheint unmöglich zu sein. Ein guter Anfang ist, dass unter dem Druck der maoistischen Ideologie ein Anti-Korruptions-Komitee gebildet wurde, das nach genauen Untersuchungen korrupte Politiker und Beamte unbarmherzig ins Gefängnis steckt. Die Angst vor diesen Untersuchungen wächst auch im Mittelstand, der jetzt ebenfalls unter die Lupe genommen wird. Während noch im letzten Jahr allerlei Dokumente, Erlaubnisse und Entscheidungen für Geld zu haben waren, ist dies jetzt Vergangenheit, weil jeder heute Angst haben muss, bei seinen "Missetaten" ertappt zu werden...
Unser Soldat Bhagat ist jetzt endgültig von der Armee aufgenommen worden und lässt zur Zeit ein sehr hartes Training im Dschungel über sich ergehen. Da er jetzt - wie man in Kathmandu sagt - auch der "Volksarmee" dienen wird, fühlt er sich besser und versprach uns einfach daneben zu schießen, falls er jemals den Befehl erhielte, jemanden zu töten...
Aufenthhalte in Kathmandu bringen immer unerwartete Ereignisse mit sich. Eines Morgens kam unser Fahrer Rajendra mit seiner Frau und seinem einmonatigen Baby im Arm zu uns. Es müsse sofort im Krankenhaus aufgenommen werden, da es sonst sterben würde, meinte er, und er hätte kein Geld, die Kosten dafür zu bezahlen. Theoretisch bekommen alle Mitarbeiter des Kinderhauses und alle Kinder von uns medizinische Hilfe, aber geplant war nie, diese Hilfe auf alle Angehörigen auszuweiten, weil sie so zahlreich sind, dass man dann Children´s World schließen und ein Krankenhaus aufmachen müsste! Als wir uns das Baby näher anschauten, waren wir erschrocken festzustellen, wie entsetzlich mager es war. Der nepalesische Arzt stellte gleich eine starke Unterernährung fest, verbunden mit einer Lungenentzündung!
Rajendra und Fullmaya, selbst gut ernährt, schauten also seit Wochen einfach ahnungslos zu, wie ihr Kind in ihren Armen langsam starb! Er hätte nie Hunger und weinte nie, meinte Fullmaya. Dabei war das Baby schon lange zu schwach, um überhaupt Milch von der Brust seiner Mutter saugen zu können. Selbst der Arzt war deprimiert. Er erzählte uns, dass dies leider kein Einzelfall wäre, und war verzweifelt über die tiefe Ignoranz der Menschen seines Landes. Seitdem das Kind zwei Wochen später entlassen wurde, sind Sarshoti und Meena mit einigen großen Kindern regelmäßig bei Rajendra auf Besuch und unterrichten die Mutter, wie man mit dem Kind und dem Haus hygienisch umgehen sollte.
Wir bemühen uns, die größeren Kinder an den Gedanken zu gewöhnen, bald in Wohngemeinschaften zu leben, damit sie lernen, selbstständig zu werden. Dann werden wir zwar ihre teuren Universitätsgebühren bezahlen und sie eventuell mit dem unterstützen, was man in Kathmandu "trockene Nahrung" nennt, wie z.B. Bohnen, Linsen, Reis, Sojabohnen, Gewürze u.s.w..., aber sonst werden sie sich allein durchschlagen müssen. Diese Aussicht schmeckt unseren lieben Kindern zwar nicht sehr, denn sie fühlen sich im warmen bequemen Nest von Children´s World äußerst wohl und hätten am liebsten, wenn sich an dieser Situation nichts ändern würde...
Unser schwieriges Kind Bharat macht weiterhin Probleme. Nach vier Schuljahren kann er weder das nepalesische noch das englische Alphabet. Dagegen ist er in seiner Klasse der Chef einer kleinen "Gang".
Khim hat nur Ärger mit ihm und hatte schon einen fernen Verwandten des Jungen aus dem besonders armen Südnepal ausfindig gemacht. Dort sollte er ab jetzt leben, denn Bharat würde es sowieso zu nichts bringen, meinte er. Es gab heftige Diskussionen, auch gemeinsam mit allen Kindern. Der Junge ist acht, Vollwaise, und es war allen klar, dass er mit Sicherheit zum Straßenjungen würde, wenn wir ihn wegschickten. Um eine Entscheidung zu treffen, wurde eine Wahl organisiert, bei der alle - nur natürlich Khim nicht - dafür waren, daß Bharat in Children´s World noch eine Weile bleiben sollte. Ganz besonders die Mitarbeiter, die am meisten unter seinen Streichen zu leiden haben, setzten sich liebevoll für ihn ein. Es ist natürlich schwierig, Khim ein Kind aufzuzwingen, da er ja tagtäglich seine Taten verantworten muß. Bharat ist leicht geistig behindert und verspätet, aber da es für ihn in Nepal keine entsprechende Institution gibt, wollen wir hoffen, daß er in ein paar Jahren vielleicht einen manuellen Beruf erlernen kann...
Da die Solarheizanlage nicht für alle reichte, war ein Freund aus Nürnberg bereit, dem Kinderhaus eine zweite zu bezahlen. Leider konnte das Dach einen zweiten Wassertank nicht tragen, und wir haben stattdessen drei elektrische Wasserheizer in den Badezimmern installieren lassen. Jetzt kann also keiner eine Entschuldigung mehr haben, im kalten Winter schmuddelig herumzulaufen!
Das Projekt der Alphabetisierungsschule wird weiter vorbereitet. Die Schule, die unsere kleinen Kinder gegen hohe Gebühren besuchen, stellt uns von 6 bis 9 Uhr ihre Klassenräume unentgeltlich zur Verfügung und Khim ist dabei, Flugblätter drucken zu lassen, die in den staatlichen Schulen verteilt werden sollen.
Diese staatlichen Schulen haben zwar ein niedriges Niveau, aber sie verlangen wenig Geld, und von ärmeren Familien besucht mindestens ein Junge eine solche Schule. Durch diese Kinder wollen wir versuchen, an die restlichen Familienmitglieder heranzukommen, und wir werden weiter sehen, ob das Projekt funktionieren kann oder nicht. Nicht nur in ganz Nepal, sondern auch in Kathmandu ist der Analphabetismus groß, und es ist nicht selten, Gruppen von im Kreise niederkauernden Männern zu sehen, die zuhören, während der eine ihnen die Zeitung vorliest.
Raj Kumars Kräfte lassen weiter nach, aber sonst geht es allen im Kinderhaus gut. Die Angst vor dem schon lange angekündigten Erdeben wächst und die wenigen Leute, die Geld haben, bauen jetzt für ihre Bedürfnisse erdbebensicher. Am Katastrophentag werden jedoch die meisten Bauten Kathmandus wie Kartenhäuser zusammenfallen. Wir haben einen Architekten gerufen, der für etwa 5000 Euro behauptet, das Haus sichern zu können, aber die Kinder wären wegen der Umbauarbeiten wochenlang ohne Dach, und der Vermieter weigert sich diese Arbeiten zu erlauben. Es ist die indische Kontinentalplatte, die Ärger macht. Sie rutscht langsam unter den Himalaya, und zwischen 1955 und 1999 ist der Everest um zwei Meter höher geworden. Der Gedanke an eine solche Katastrophe ist für uns ein Alptraum, der uns völlig hilflos lässt, denn so sehr wir uns auch bemühen, eine Lösung zu finden, bleiben diese Bemühungen erfolglos. Unsere nepalesischen Kinder und Mitarbeiter nehmen es hin, wie es ist und machen sich keine Sorgen. "Da wir nichts dagegen tun können", sagen sie, "halten wir es für besser, nicht darüber nachzudenken." Unsere westliche Mentalität der Vorsorge ist da auf jeden Fall Fehl am Platz!
Auch der Krieg im Irak, der bei uns in Deutschland soviele Schüler auf die Straße gebracht hat, wurde von Children´s World trotz Satelliten-Fernsehen kühl aus der Ferne registriert. "Natürlich ist es schrecklich," meinten die großen Kinder, "aber auf die Straße zu gehen, um dagegen zu protestieren, da kämen wir uns wirklich lächerlich vor!"
Anderes Land, andere Sitten und eine ganz andere Mentalität, die uns nach den letzten 14 Jahren Zusammenarbeit mit Nepal zwar immer noch oft auf die Palme bringt, für uns aber im Nachhinein immer wieder eine sehr große Bereicherung ist. Herzlichen Dank für Ihre treue Unterstützung bei dieser Arbeit und Ihnen allen weiterhin alles Liebe und Gute für die kommenden Zeiten!
Sumitra haben wir als Sechsjährige unterernährt nachts auf der Straße gefunden. Ihren Aussagen nach wurde sie von ihrer Familie, wahrscheinlich Nomaden aus Indien, ausgesetzt. Nur ihre Brüder wurden regelmäßig ernährt, und sie bekam die Reste, die sie nicht essen wollten. Eines Morgens, als sie aufwachte, war sie allein mitten im Verkehr von Kathmandu. Damit sie gute Chancen im Leben bekommt, haben wir ihr damals den Familiennamen Panday gegeben, der im Hinduismus auf die Zugehörigkeit zu einer "höheren Kaste" hinweist. Sumitra ist heute 15 Jahre alt.
Ganz herzliche Grüße
Elisabeth Montet