Liebe Freunde,
In den letzten Monaten hat sich die soziale und politische Lage im Tal von Kathmandu so drastisch verändert, daß die Sicherheit seiner Einwohner immer weniger gewährleistet werden kann. Zu der wachsenden allgemeinen Kriminalität ist der Angriff der Maoisten gekommen. Bis vor kurzem fanden ihre Terroranschläge nur in der Provinz statt. Jeden Tag berichten jetzt die Zeitungen von zahlreichen Toten. Auf den Mauern Kathmandus sind Parolen aufgemalt wie: "Ausländer raus, wir brauchen Eure Hilfe nicht!". In der Presse ist auch zu lesen, daß die amerikanische Botschaft ihren Landsleuten geraten hat, das Land nicht mehr zu bereisen und alle Ansammlungen in der Stadt zu meiden.
Bikram, einer unserer ältesten Kinder, kam letzte Woche von Südindien zurück, wo er zwei Jahre lang das College besuchte. An der Grenze zu Nepal wurde er dreimal von bewaffneten Gruppen mit der Maschinenpistole bedroht. Die Männer wollten Geld, sonst, sagten sie, würden sie ihn nicht ins Land hereinlassen. Da er nur leere Taschen hatte, ließen sie ihn am Ende doch durchgehen.
Das Kinderhaus ist von diesen Auswirkungen der Kriminalität nicht verschont geblieben. Einmal haben sich Diebe nachts durchs Fenster ins Haus geschlichen und Khims Lohn und Papiere aus seiner Tasche gestohlen. Dreimal innerhalb von zwei Monaten wurde das Haus von maskierten Männern mit Steinen angegriffen.Khims Motorrad wurde beschädigt und vor zehn Tagen ist er von einem Auto angefahren worden und wurde am Bein und an der Hand verletzt. Die Polizei, die jedesmal benachrichtigt wurde, kam immer zu spät, so daß die Täter unbekannt bleiben.
Eins ist sicher: die Anwesenheit von Hilfsorganisationen in Nepal ist von immer mehr Menschen unerwünscht. Und nicht nur von den Maoisten. Selbst die nepalesische Regierung scheint unsere Arbeit im Lande erschweren zu wollen und hat angefangen, Kontrolle auf Hilfsorganisationen auszuüben. Alle solche ausländischen Organisationen müssen über eine hierfür gegründete nepalesischen Schwesterorganisation arbeiten. Ein neues Gesetz verlangt, daß Beamte der Regierung in dieser nepalesischen Organisation sitzen und ein Mitspracherecht haben.
Aber daran haben die nepalesischen Beamten nicht gedacht: die zum Funktionieren des Projektes nötigen Gelder fließen einmal im Monat von dem DM-Konto der Kinderhilfe Nepal auf das Konto der nepalesischen Schwesterorganisation, deren Präsident Khim ist, und es würde ein Fax von uns reichen, um den Hahn zuzudrehen. Wir haben vor elf Jahren wegen der damaligen politischen Situation inoffiziell im Land gearbeitet und wir würden es sicherlich wieder tun, wenn uns die Umstände irgendwann dazu zwingen.
Viel unangenehmer haben wir den Besuch von zwei Beamten vor vier Wochen empfunden, die, ohne sich anzukündigen in "Children´s World" aufgetaucht sind, um beide Häuser genau zu inspizieren und Kinder und Personal stundenlang auszufragen. Im letzten Jahr hat es Fälle von Kindesmißbrauch in Kathmandu gegeben und Hilfsprojekte wie unsere werden jetzt verdächtigt, nur eine Tarnung für eine weltweite Organisation von Kindesmißbrauch zu sein. Als unsere Mitarbeiter beteuerten, daß dies nicht der Fall sei, entdeckten die Beamten Photos eines Weihnachtsfestes, das die Kinder vor zwei Jahren unbedingt mit uns feiern wollten, um einen Eindruck davon zu bekommen. Ein gefundenes Fressen, um uns zu beschuldigen, die Kinder christianisieren zu wollen! Auch das bestritten die Bewohner des Kinderhauses. Die Erwachsenen, die seit so vielen Jahren mit uns zusammenarbeiten, waren, laut Khims Bericht, völlig verstört und konnten diesen Besuch nicht verstehen. Diese neue Situation macht uns etwas bittter und die Verdächtigung, daß wir Kinder mißbrauchen könnten, empfinden wir als eine echte Verletzung unserer Würde.
Immerhin. Das Leben von "Children´sWorld" geht weiter mit den Höhen und Tiefen, die entstehen, wenn Kinder zu Jugendlichen werden:Krishna hat seit längerer Zeit die Angewohnheit zu stehlen und da es uns allen unmöglich war, ihn davon abzubringen, arbeitet er jetzt im Haushalt einer Familie und geht weiter zur Schule. AuchKusum, deren Frechheit nicht zu bändigen war, hat während der Ferien als "Mädchen für Alles" bei Tibetern gearbeitet und ist reumütig zurückgekehrt, nachdem sie einen Eindruck bekommen hat, wie es den meisten nepalesischen Kindern geht.
Santosh ist unser schwierigster Fall. Er will nicht mehr zur Schule gehen, will aber nachts im Kinderhaus schlafen und tagsüber draußen "das Leben genießen"! Khim ist mit ihm nicht fertig geworden. In Nepal ist man mit 16 mündig. Santosh ist aber erst 14 und mußte trotzdem von Khim auf die Straße gesetzt werden. Wir versprachen ihm, daß er, wenn er zur Besinnung kommt und wieder zur Schule gehen möchte, im Juni zum nächsten Schulanfang vom Kinderhaus wieder aufgenommen werden kann. Letzte Woche ließ er einen Freund anrufen, um uns mitzuteilen, daß er tot sei! Es war natürlich schnell festzustellen, daß es nicht stimmte. Er scheint weich zu werden und es draußen im Elend nicht so schön zu finden, weil er überall erzählt, daß er bald wieder ins Kinderhaus zurückkommen wird. Er ist ein sehr charmanter und intelligenter Junge und es fällt ihm nicht schwer, hier und da zu Essen zu bekommen und nachts irgendwo unterzukommen. Hier könnte man ihn in einem speziellen Heim unterbringen, aber in Nepal existieren solche Einrichtungen nicht und es gibt für derartige Fälle keine andere Lösung als solche Jugendliche zu dem Schicksal der meisten nepalesischen Kinder zurückzuschicken, damit sie – vielleicht – realisieren, welche Chance sie in diesem Projekt haben.
Als wir Santosh fanden, war er erst sieben Jahre alt und arbeitete schon seit zwei Jahren als Tellerwäscher in einer schmutzigen Garküche.
Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen. Sonst läuft alles seinen gewohnten Gang. Wenn sie Ferien haben, helfen alle in der Küche und bei den Hausarbeiten. Der Spender, der dem Kinderhaus einen Computer geschenkt hatte, hat dieses Mal dazu beigetragen, eine echte Bücherei in "Children´s World" einzurichten.
Raj Kumars Aufgabe ist es jetzt, von seinem Rollstuhl aus, den Eingang des Grundstücks zu bewachen. Da er seine Tage meistens draußen in der Sonne verbringt, wurde er mit einer Pfeife ausgerüstet und er hat eine Pfeif-Sprache erfunden, um das ganze Haus von der Art der Besucher zu informieren!
Khim und Phurba ergänzen sich gut, um das Haus zu leiten. Auch sie machen sich Sorgen über die Zukunft, besonders Khim, der als Hauptverantwortlicher des Projektes sich bedroht fühlt. Wir haben ihm ein Verteidigunsspray zukommen lassen und überlegen uns, ob wir nicht eine Alarmanlage für das ganze Projekt im Juni nach Nepal bringen sollten. Als die Angriffe anfingen, wollte Khim die beiden Häuser mit Stacheldraht einzäunen! Für uns eine unmögliche Vorstellung... Die jetzige Situation könnte uns aber eines Besseren belehren. Wir haben schon aus Sicherheitsgründen das Schild "Children´s World - Kinderhilfe Nepal – Germany", das am Haus hing,entfernen lassen, um den ausländischen Ursprung des Projektes so unauffällig wie möglich zu halten. Wir fliegen im Juni nach Kathmandu mit gemischten Gefühlen. Im letzten Dezember lag schon eine latente Aggressivität in der Luft und wir ließen uns abends direkt vom Kinderhaus ins Hotel fahren, ohne wie früher ein bißchen zu bummeln. Wir lassen uns überraschen, wie es dieses Mal wird.
Wir bedanken uns für Ihre treue Unterstützung und melden uns im August – September mit den Spendenquittungen und den letzten Nachrichten aus Nepal.
Ganz herzliche Grüsse
Elisabeth Montet und Uwe Pohlig