Liebe Freunde,
vor sechs Monaten haben die maoistischen Ex-Rebellen die absolute Mehrheit
bei den Parlamentswahlen nicht ganz erreichen können. Da keine
der anderen Parteien mit ihnen eine Koalition eingehen wollte, hat es
mehrmonatige Verhandlungen gebraucht, damit man sich endlich darüber
einigte, den Maoistenchef Prachanda Mitte August doch zum Premierminister
zu wählen. Jetzt ist er dabei, eine neue Regierung zu bilden. Die
Monarchie wurde inzwischen abgeschafft und die nepalesische Republik
ausgerufen. Zu den endlosen Machtkämpfen der Politiker aller Richtungen
kam ein sehr großes Problem: die südliche Provinz Terai verlangt
ihre Autonomie, und ihre Anführer werden in die neue Regierung
integriert werden müssen.
Während dieser langen ergebnislosen Monate verbreitete sich in
Nordnepal eine Hungersnot: nicht nur wegen der allgemeinen Weltwirtschaftskrise,
sondern auch wegen der Politik der Chinesen, die ihre Grenzen zu Nepal
aus Angst vor tibetischen Protesten schließen und dadurch den
Transport von Hilfsgütern und Nahrung ins Land verhindern. Die
bis jetzt machtlose nepalesische Regierung will sich die Gnade und das
Wohlwollen des Riesennachbarn China bewahren und geht mit Brutalität
gegen die Anhänger des Dalai Lamas vor. Über 800 gewaltlose
Tibeter warten in den schon überfüllten Gefängnissen
Nepals auf eine eventuelle Befreiung. Die Benzinknappheit und die unbezahlbaren
Preise für Treibstoff jeder Art lahmen das Leben des Landes, und
die meisten Unternehmen müssen schließen. Verseuchtes Wasser
und Berge von übelriechenden, krankheitserregenden Abfällen
auf den Straßen der Hauptstadt bedrohen die Gesundheit der Einwohner.
Proteste von allen Seiten verhindern den Alltag: Einmal sind es die
Taxi-und Busfahrer, die den Verkehr verbieten, um ihren Zorn gegen die
Erhöhung des Benzinpreises auszudrücken, ein anderes Mal verbrennen
die Studenten Autoreifen, weil die Schul- und Universitätsgebühren
noch teurer geworden sind. Frauengruppen, Händler und sogar Kinderbanden
demonstrieren und werfen Steine auf jedes Fahrzeug, das sich dann auf
die Straßen wagt.
Slums schießen wie Pilze aus dem Boden, weil die Menschen aus
dem Himalaja sich in Kathmandu eine Erleichterung ihrer Lebensverhältnisse
erhoffen. Als die alte Regierung die Räumung und Zerstörung
von mindestens 50% der Slums ankündigte, waren es Tausende von
Slummenschen, die die Straßen besetzten. Die Einwohner unseres
Slums waren auch dabei, obwohl er noch nicht auf der Räumungsliste
steht. Er ist durch unsere Arbeit mit den Kindern und Frauen nämlich
zu einem "5-Sterne-Slum" geworden. Die meisten Menschen der
Siedlung sind in die maoistische Partei eingetreten. Während deren
Anführer monatelang um politische Macht kämpften, schlugen
ihre Anhänger tiefe Wurzeln in der Hauptstadt und sind dabei, eine
neue organisierte Gesellschaftsschicht unter den Armen zu etablieren.
Dies könnte sich eines Tages als fatal für die konservativen
Kräfte des Landes erweisen.
Sija hat seit vier Monaten echte Gesprächspartner im Slum: junge
Frauen und Männer, die nicht nur unsere Unterstützung annehmen,
sondern auch engagiert und ernsthaft mitarbeiten, um das Leben der Gemeinschaft
zu verbessern. Durch deren Hilfe und den Druck, den sie auf die Behörden
ausüben, haben wir endlich das Trinkwasser bis zur Mitte des Slums
gebracht Zwei 10.000 Liter Wasserreservoirs wurden installiert, und
jeden Tag stehen die Frauen Schlange, um an das kostbare Wasser zu kommen.
Die Kinderhilfe Nepal trägt die Kosten; die Verteilung wird von
Sija und drei Mitgliedern des Slumkomitees beaufsichtigt. Bis jetzt
üben die Maoisten keinen Druck auf uns aus. Die Menschen haben
eigentlich einfache Bedürfnisse, die wir erfüllen. Sie sind
dafür dankbar. Politische Diskussionen gibt es nicht.
Die Kinder profitieren mehr denn je von der regelmäßigen
Nahrung, die sie täglich von uns bekommen, weil die Grundlebensmittel
so teuer geworden sind, dass kaum jemand sie sich leisten kann. Weil
wir immer mehr Kinder betreuen müssen, haben wir eine zusätzliche
Kraft aus dem Slum eingestellt. Shova hat gerade das Abitur bestanden
und gehört einer Frauengruppe an, die mit einem Aufklärungsprogramm
über Mädchenmisshandlung in den Schulen arbeitet. Wir haben
zwei weitere Räume für wenig Geld in der Nachbarhütte
der Schule mieten können, und wir müssen neue Bänke und
Tische vom Slumschreiner anfertigen lassen. Die Gewalttätigkeit
der Männer hat sich durch das Frauenverteidigungskommando gelegt,
und falls jetzt ein Gewaltproblem auftritt, werden die Maoisten-Sicherheitsleute
von einem nahe gelegenen Revier gerufen, so dass neue Ordnung in der
Gemeinschaft herrscht.
Der Alkoholismus bleibt ein großes Problem und zerstört ganze
Familien wie z.B. die von Rijha Pariyar. Ihre Töchter sind gute
Schülerinnen, aber die Mutter trinkt Reisschnaps in so großen
Mengen, dass sie abends zur Furie wird und ihren schwer arbeitenden
Mann verprügelt. Es gibt in Kathmandu eine Art Anstalt, in der
Alkohol Abhängige sechs Monate mit abwechslungsreichen Tätigkeiten
und Gruppentherapien verbringen können. Die Erfolgsquote ist groß,
aber obwohl die Lebensbedingungen des Programms von Luxus weit entfernt
sind, sind die Kosten dieses Aufenthalts (350 Euro) für die meisten
unbezahlbar. Wir machen uns immer wieder darüber Gedanken, ob wir
soviel Geld für Erwachsene ausgeben dürfen, weil das Ziel
unserer Organisation im Grunde darin besteht, Kindern zu helfen. Vielleicht
findet sich jemand, der/die bereit wäre, die Therapiekosten für
diese Frau zu tragen.
Unsere ehrenamtliche Krankenschwester Swechha hilft Sija nach wie vor
und verteilt alle sechs Monate ein Mittel gegen Würmer, von denen
die Kinder immer wieder geplagt werden, weil sie zu Hause unreine Nahrung
essen. Langsam lernen sie, sauber zu sein. Andernfalls werden sie gezwungen,
ihre Kleider in der Schule mit Sussilas Hilfe zu waschen. Sie gehen
etwas beschämt nach Hause und bringen ihre Mütter nach und
nach dazu, mit ihnen gemeinsam an einer besseren Hygiene zu arbeiten.
Im übrigen Projekt haben dieses Jahr fünf Mädchen das
Abitur bestanden.
Wir haben beschlossen, sie bei einem dreijährigen Studium zu unterstützen:
Zwei von ihnen werden Krankenschwester, zwei Gesundheitsassistentinnen
und eine Apothekerin. Mit ihrem Diplom werden sie nicht in der Lage
sein, im Ausland zu arbeiten, sondern nur in größeren Städten
ihrer Heimat, oder sie werden in entlegenen Dörfern Nepals wie
Ärzte tätig sein und ihren Mitmenschen helfen. Während
die ärmeren Nepalesen in die arabischen Golfstaaten flüchten,
um sich als billige Arbeitskräfte zu verkaufen, verlassen alle
intelligenten und gebildeten Kräfte das Land und hoffen, in den
USA oder Australien ans "große Geld zu kommen. Diese Tendenz
steht im Gegensatz zu dem Ziel unserer Hilfsarbeit, denn es wäre
bitter, diese Kinder seit so vielen Jahren auszubilden, damit sie am
Ende ihr Land im Stich lassen.
Es hat in der klein gewordenen Gruppe von Children's World heftige Diskussionen
über dieses Thema gegeben, bei denen alle einsehen mussten, dass
eine Organisation wie Kinderhilfe Nepal nicht dazu da ist, um ihnen
Luxus zu verschaffen, sondern um ihnen ein würdiges Leben und eine
Arbeit zu ermöglichen, bei der sie selbst anderen helfen können,
die es bitter nötig haben. Nur drei unserer Jugendlichen studieren
im Ausland, weil sie besonders brillant sind. Die restlichen, genauso
wie diejenigen, die das Projekt schon verlassen haben, werden aber in
Nepal bleiben und aktiv an der Entwicklung des Landes teilnehmen. Unser
Einsatz liegt jetzt hauptsächlich in den Slums und wir freuen uns,
dass einige von ihnen, wie Sija, in dieser Arbeit ihre Erfüllung
finden.
Sie erzählt den Slummenschen, wie das Geld für die Verbesserung
ihrer Lebensumstände zusammenkommt. Viele staunen oft, dass die
Hilfe, die sie eigentlich von ihrer Regierung erwarten, aus einem so
fernen Land kommt, und alle bedanken sich für Ihre wertvolle Unterstützung.
Auch von uns wieder ein herzliches Dankeschön und alles Gute und
Liebe bis zum Dezember!
Ganz herzliche Grüße,
Elisabeth Montet
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