Palden Lhamo [tib.: Sri-Devi] ist eine der bedeutendsten Schutzgottheiten im tibetischen Buddhismus und die einzige weibliche Gottheit in der mächtigen Gruppe der acht Dharma-Beschützer (Dharmapala). Sie wird besonders von den Gelugpas verehrt, für die sie eine besondere Schutzgottheit Lhasas und des Dalai Lama ist. Man weiß, daß sie an einem geheimnisvollen See, dem Lhamo Latso, ca. 145 km südöstlich von Lhasa, erscheint. Dieser See ist dafür bekannt, daß er an seiner Oberfläche die Spiegelbilder der Zukunft offenbart. Der 2. Dalai Lama Gendün Gyatso [1475-1542] gründete hier 1509 das Kloster Chökorgyal. Seit dieser Zeit war es bei den Dalai Lamas Brauch, dem Kloster und dem magischen See jedes Jahr einen Besuch abzustatten.
Palden Lhamo ist der tibetische Name der Hindugöttin Shri Devis, da sie die tibetische Erscheinung der schrecklichen schwarzen Göttin Indiens ist. Die Legende verbindet sie mit Tara und Sarasvati. In der tibetischen Kunst erscheint Palden Lhamo mindestens seit dem 11. Jh. im Gefolge anderer Gottheiten, besonders in Bildnissen des Mahakala und des Yama Dharmaraja. Mit ihrem Aufstieg als persönliche Schutzgottheit der Dalai Lamas unter den Gelugpas erhielt sie einen wichtigen, unabhängigen Status und wurde zum Hauptgegenstand zahlreicher Malereien. Man schreibt ihr die Pflicht zu, die Dalai Lamas und die Regierung von Tibet zu schützen. Sie wird mit den männlichen Beschützern Mahakala und Yama Dharmaraja assoziiert.
Palden Lhamo als Shri Devi repräsentiert die dunklen Kräfte des Großen Mutter-Aspektes im Leben. Im Buddhismus ergriff sie eine beschützende Machtfunktion, um die zerstörerischen Kräfte der Ich-Bezogenheit zu bezwingen. Speziell in Tibet könnte sie alte einheimische, mit der Bön-Tradition verbundene weibliche Gottheiten verdrängt haben. Nach ihrer Einführung in Tibet wurde sie in das Gefolge anderer Gottheiten eingegliedert. Oft erscheint sie als Begleiterin des Mahakala. Nach ihrer besonderen Begünstigung durch Gendün Gyatso, den 2. Dalai Lama, und den 5. Dalai Lama erlangte sie bei den Gelugpas hohes Ansehen. Ihre Bildnisse erscheinen überall in der Folge der Ausbreitung des Gelugpa-Einflusses nach West- und Osttibet, in die Mongolei und nach China.
Palden Lhamo treibt auf den üblichen Darstellungen ihr wildes Maultier durch ein Meer von Blut und Fett. Sie wird blau-schwarz, grausig, mit hängenden Brüsten, flammenden Augenbrauen und Schnurrbart und zu Berge stehendem Haar dargestellt. Sie schwingt eine mit einem Vajra gekrönte, langstielige Keule und eine Schale, die aus dem Schädel eines Kindes, das einer inzestuösen Verbindung entsprungen ist, gefertigt ist. Die Schale ist mit Sinnesorganen, einschließlich des Herzens und herausgerissener Augäpfel, gefüllt. Sie sitzt rittlings auf ihrem Reittier, nur in den schrecklichen Schmuck der zornvollen Gottheiten gehüllt.
Sie schwingt eine Keule und hält eine Schädelschale voller Blut nahe ihrem Herzen. Um ihren Körper ist eine Schnur aus 15 abgetrennten Köpfen geschlungen. Ihre Brüste sind spitz, und an ihrem Nabel befindet sich eine Sonnenscheibe. Ein Schwert steckt in ihrem Gürtel. Ein Gewand aus schwarzen Seidenflicken bauscht sich hinter ihr, und eine abgezogene Menschenhaut ist über ihren Rückengebunden. Ihr Reittier, der wilde Esel, ist mit einer weiteren abgezogenen Menschenhaut bedeckt, deren Hände und Füße zusammengebunden sind und deren Kopf noch an ihr hängt. Der wilde Esel dreht seinen Kopf zur brüllenden Lhamo, während er über das schädelbedeckte Meer aus Blut zwischen den Himalaya-Bergen galoppiert.
Schlangen halten ihren Lendenschurz aus Tigerfell hoch, und fünf mit flammenden Edelsteinen gekrönte Schädel bilden ihre Krone. Es heißt, daß eine Mondsichel in ihrem Haar und eine strahlende Sonnenscheibe an ihrem Nabel Gaben des Gottes Vishnu sind, so wie ihre übrige Ausrüstung Geschenke verschiedener anderer Götter sind.
Die abgezogene Haut über dem Maultierrücken ist die ihres eigenen, von ihr getöteten Sohnes. Der Kopf hängt vor ihr herunter, und Hände und Füße sind gefesselt, um die Haut an ihrem Platz zu halten. In einer der ihr gewidmeten Legenden wird ihr Leben als Königin kannibalischer Dämonen auf Sri Lanka erzählt. Sie hatte gelobt, ihren eigenen Sohn umzubringen, falls es ihr nicht gelingen sollte, ihren Ehemann und ihr Volk von Kannibalismus und Menschenopfern abzubringen. Als ihr Ehemann ihre Warnung nicht beachtete, erfüllte sie ihr Gelübde, tötete das Kind vor den Augen des Vaters und nahm die ehrfurchtgebietende Form der Lhamo an.
Ihr wildes Maultier ist mit Zaumzeug aus giftigen Schlangen versehen. Über seiner vorderen Flanke hängen ein Würfelpaar, das Lhamo benutzt, um das gute oder schlechte kharmische Geschick der Lebewesen zu bestimmen, ferner ein Schädel und eine schwarze, mit Gebrechen gefüllte Tasche. Aus Mitgefühl schluckte sie so viele Gebrechen der Welt wie möglich. Die übriggebliebenen stopfte sie in diese Tasche. Nachdem sie die Würfel zur Bestimmung der karmischen Situation geworfen hat, atmet sie die Gebrechen aus, oder sie entläßt sie aus der Tasche, um die Feinde des Dharma zu unterwerfen. An der hinteren Flanke des Maultiers hängt ein Knäuel aus magischem Faden, mit sich kreuzenden blauen und roten Linien, der aus eingerollten Waffen gefertigt sein soll. Nahebei befindet sich auf dem Pferdekörper das Auge, welches sich formte, als sie den Pfeil, den ihr Ehemann, der Kannibalenkönig, während ihrer Flucht aus Sri Lanka auf sie abgeschossen hatte, herauszog.