Technik und Materialien in der frühen zentraltibetischen Malerei
Auszug aus: Geheime Visionen - Frühe Malerei aus Zentral Tibet,
von Steven M. Kossak and Jane Casey Singer, mit einem Essay von Robert Bruce-Gardner
© by The Metropolitan Museum of Art, New York.
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung
Die Malereien
Die Darstellung des Manjushi ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. durch das Festhalten an der Tradition wie durch ihre künstlerische Originalität. Der Stil der Hauptfigur und der Buddhas im oberen Register zeichnet sich zwar durch eine ausgesprochen feine Linienführung aus, ist aber in eine von der Darstellung bestimmte Förmlichkeit eingebunden. Bei den begleitenden Bodhisattvas, bei den die Bildgrenzen überschneidenden Figuren und beim Rankenwerk jedoch erkennt man die gestalterische Freiheit des Künstlers. Die verhältnismäßig matte, deckende und helltonige Malerei ist dünn und flüssig auf eine Grundierung aufgetragen, welche die Gewebetextur noch sichtbar werden lässt. An einigen Partien, wo die kräftigeren und dichteren Azurit- und Malachitschichten abgeblättert oder verloren sind, erkennt man eine helle Vorzeichnung, wobei die Struktur der Pflanzenstängel des oben rechts teilweise offen liegenden Blattwerks beim Auftragen der Farbschicht gedreht wurde.
Die Farbfelder wurden mit einem feinen und sorgfältigen Pinselstrich umrissen und dann mit einem breiteren und flüssigeren Strich gefüllt. Die Partien sind sehr präzise abgegrenzt und überlappen einander nur gelegentlich. Der Gebrauch von Lasuren dient der Körpermodellierung der Figuren und der sonst flach wirkenden Lotosblätter, auch die Gewandfalten erscheinen dadurch plastischer. Auf kunstvollen Dekor wurde verzichtet. Konturen und Details in Lackrot und Indigo geben zusammen mit ergänzenden Höhungen durch ein deckendes Weiß den nahezu poetisch-gefühlvoll wirkenden Blattranken zusätzliches Profil. über das Malachitgrün der Thronrückwand ist mit einem dunklen Indigoblau ein Rankendekor gelegt worden; diese Technik ist später noch verfeinert worden. Vergoldete Partien haben gewöhnlich eine Untermalung. Bei der Figur des Manjushri sind es zwei Schichten von Gelb, deren obere einen wärmeren und ins Orangefarbene gehenden Ton aufweist. Die verhältnismäßig schematische Goldmalerei wird in einer Röntgenaufnahme sichtbar. Innerhalb sorgfältig gezeichneter Konturen erkennt man einen breiten, aber nicht sehr flüssigen Pinselstrich, bei dem Augen, Mund, Buch, Schmuck und Schärpe ausspart wurden. Dem Gold wurde am Ende durch Polieren Glanz und Schimmer verliehen; das unpolierte, matte Gold des Lama-Porträts im Metropolitan Museum ist weniger üblich.
Der Buddha mit den Fünf Tathagatas und der Buddhistische Priester, zwei Malereien, die nicht nur stilistisch, sondern auch in Bezug auf ihr religiöses Umfeld und ihre Datierung eng verwandt sind, bieten nicht nur Gelegenheit zu Mutmaßungen über die Rolle des Auftraggebers, sondern auch zu Beobachtungen über die Vielfalt einer einfachen, aber zunehmend verfeinerten Maltechnik. Es ist nicht leicht, sich das ursprüngliche Aussehen des Buddha-Thangkas vorzustellen, da die meisten der hellen und der weiß grundierten Partien fleckig geworden sind oder sich abgedunkelt haben; in der Technik unterscheidet es sich aber vom Manjushri dieser Ausstellung. Die wenigen Grundfarben wurden modifiziert und durch darüber liegende Lasuren vervielfacht, und zugleich wurden in einer höchst feinen Linienzeichnung Konturen und Verzierungen angebracht. Die vertikalen gelben Felder einer Tempelarchitektur beiderseits des Buddhas zeigen Spuren einer feinen Zeichnung von väylas in einem opaken Rot, und im gelben Nimbus über dem Kopf des Vairochana ist ebenso fein in schwarzer Farbe ein winziger Garuda gezeichnet, um den herum ein unlesbar gewordenes Muster angeordnet ist, das möglicherweise der leichter erkennbaren Zeichnung im gelben Feld über der linken Figur auf dem großen bemalten Manuskriptdeckel dieser Ausstellung gleicht. Beim Buddha-Thangka wird der Kontrast zwischen dem Glanz der meisten Pigmente und der Mattheit des Azurits und Malachits durch die Reflexion des Lichtes noch verstärkt.
Der ausgearbeitete, detaillierte Dekor der Bordüre im Bild des Buddhas ist ein Element, das auch im Bild des Buddhistischen Priesters angetroffen werden kann, ebenso die ausführliche Zeichnung auf der Rückseite. Die Rückseite des Buddhas mit den Fünf Tathagatas enthält keine Verehrungs- oder Anrufungsformeln, wohl aber eine detailreiche und präzise Zeichnung, die mit dünnflüssigem Rot gemalten symbolischen Motive dieser Darstellung nehmen die ganze Bildfläche ein. Das größere Format des Thangkas des Buddhistischen Priesters erlaubt eine reichere Ausarbeitung in der Zeichnung, im frei angelegten, fließenden Rankenwerk, in den eher konventionellen architektonischen Elementen mit dünn aufgetragener, die schwarze Umrisszeichnung plastisch machender Farbe. Es handelt sich um eine Demonstration künstlerischer Virtuosität und eine Fortentwicklung der technischen Mittel unter Vermehrung der Farben. Zusammenfassend könnte das Bild in folgenden Worten beschrieben werden. Virtuosität und exquisiter, großzügiger Einsatz von Gold.
Der Buddhistische Priester ist ein Bild, das mit der Absicht, Wohlhabenheit und überfluss auszustrahlen, in Auftrag gegeben worden sein muss - vielleicht, um eine ganz besondere Verehrung der dargestellten Person zum Ausdruck zu bringen oder um auf eine bis anhin nicht bekannte Art und Weise für die betreffende Schultradition zu werben. Die Dichte und Reinheit der Pigmente, die Qualität und Sicherheit des künstlerischen Umgangs mit Form, Linie und Ausdruck sowie die Menge und Kosten des Goldes weisen auf einen ganz besonderen Auftrag hin. Die Farbe besitzt eine größere Intensität als beim Vairochana-Buddha, ist aber etwas weniger gut abgebunden und daher nicht so glänzend. Die Zahl der Farben, die Zahl der Gefäße für die Pigmente und die vom Künstler vorbereiteten Mischungen der Pigmente waren begrenzt, der hauptsächliche Unterschied liegt jedoch im üppigen Gebrauch von Gold und Lasuren.
Die Pracht der sich wie ein Portal wölbenden Regenbogen stammt im Wesentlichen von den alternierenden weißen und gelben Streifen. Das Spektrum wurde mittels dünnem, wiederholtem Farbauftrag von Lack und Indigo erzielt: Das Rot des Lackes über einem Gelb wurde zu Orange, das zum Gelb hin verblasste; unter einer dünnen Indigoschicht wurde Gelb zu Grün abgewandelt; das Indigo allein behielt seinen blauen Farbwert. Die Gleichmäßigkeit der übergänge und die Ausgewogenheit ist meisterhaft, denn diese Technik erlaubt keinerlei Fehler: Selbst die geringste Andeutung eines Farbauftrags tönt die darunter liegenden Malschicht ab. Dieselbe künstlerische Disziplin beobachtet man an dem feinen Farbauftrag beim Gesicht des Buddhistischen Priesters sowie in der Modellierung der Formen im ganzen Bild. Bei den floralen Motiven in den runden Medaillons ist eine andere Technik zur Verwendung gekommen. Ein einzelner, kräftiger Farbpunkt wurde aufgesetzt und dann mit einem nur mit Wasser geladenen Pinsel so ausgedünnt, dass die Farbintensität gegen die Ränder hin allmählich verblasste.
Wie auch schon in der vorangehend erwähnten Malerei wurde auf der grünen Thronrückwand mit Indigo ein Rankenornament gestaltet. Die Umrisse und Details des Blattwerks wurden auf die malachitgrüne Fläche aufgetragen, indem die dunklen, im Negativ erscheinenden Stellen mit Indigo definiert wurden. Zusätzliche Schattierungen mit einem dünnen Farbüberzug ergaben eine plastischere Form und Tiefe, und für letzte Höhungen wurde ein kontrastierendes deckendes Orange eingesetzt.
Die genaue Wiedergabe eines winzigen ornamentalen Details verlangte eine genau kontrollierte Konsistenz der Malfarbe. War diese zu dünnflüssig, konnte sie auseinander fließen und sich beim Auftragen verteilen; war sie dickflüssig, bildeten sich erhabene Tupfer. Die sorgfältig aufgelegten weißen Punkte einer kleinen Halskette sind reliefartig auf den gelben Grund gesetzt; die kleinen Vertiefungen darin resultieren aus einem Volumenverlust wegen der Verdunstung des als Verdünnungsmittel eingesetzten Wassers. Die Exaktheit und Meisterschaft im Detail kann am Beispiel des goldenen Rankenwerks auf dem gelben Gewandstoff illustriert werden; die Falten und Applikationen erscheinen in höchster Vollkommenheit, und beim roten Gewande werden selbst die Nähstiche wiedergegeben. Die Darstellung des Vaishravana im unteren Register lässt an etwas anderes denken. Dass das Gelb des Gesichts heller als dasjenige des Körpers ist, wird sicherlich kein Versehen, sondern Absicht gewesen sein. Könnte es sich hierbei um eine Anregung von vergoldeten Bronzeplastiken handeln, bei denen das Gesicht in Kalt-bemalung mit Gold überzogen wurde - das gleiche Gold, das als pulverisierte und mit Leim gebundene Substanz auch in der Malerei Verwendung fand?
Den goldenen Flammen im unteren Register ist eine dünne rote Lasur aufgelegt. In anderen Fällen, insbesondere beim Reliefdekor aus erhöhtem Gold und Silber wie im Porträt des Künga Nyingpo, fand man eine harzhaltige Lasur. Diese sollte weniger die Farbe abtönen als die Oberfläche schützen und vielleicht die Oxidation des Silbers zu Schwarz verhindern - dies war die übliche Praxis bei der Fertigstellung vergoldeter Manuskriptdeckel, vor allem, weil diese auch so häufig in die Hände genommen wurden.
Die so reich über das ganze Bild des Priesters verteilten reliefierten Goldtropfen wurden bei Fertigstellung des Bildes aufgesetzt. Das sieht man dort, wo einzelne sich inzwischen abgelöst haben. An der dadurch freigelegten unteren Malschicht erkennt man, dass diese vorher mit Rot, Grün oder Blau bemalt worden war, entsprechend der alternierenden Anordnung von gemaltem Schmuck. Ein solches Vorgehen ist sinnvoll und folgerichtig, denn es wäre sonst fast unmöglich, die zahllosen Tropfen genau auf der Bildfläche zu platzieren, wenn die Darstellung lediglich erst in Umrissen angelegt ist. Die Malerei musste bereits sorgfältig ausgeführt sein, bevor solche detaillierten Zutaten und Feinheiten hinzugefügt werden konnten. Dazu musste der Maler eine erstaunliche Kontrolle und Erfahrung besitzen, denn die Größe des Tropfens hing vom Flüssigkeitsgrad und von der vom Pinsel jeweils aufgenommene Farbmenge ab; um die Variationsbreite, gleichzeitig aber auch die Regelmäßigkeit in Große und Dicke der Tropfen zu erreichen, bedurfte es besonderer Geschicklichkeit. Die Farbigkeit des Grundes bewirkt eine warme Tönung des Goldes, das stark poliert worden ist und dem Bild so das Strahlen eines Juwels verleiht.
Wenn eine solche Fortentwicklung einer bereits differenzierten Maltechnik in einem Zeitraum von vielleicht fünfzig bis fünfundsiebzig Jahren stattfinden konnten, dann sollten die Veränderungen im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte nicht überraschen. Die Entwicklung am Anfang die sich beispielhaft im verbreiteten und subtilen Einsatz der Lasurtechnik äußert, sollte von einer grundsätzlichen Erweiterung der Farbpalette abgelöst werden. Dies geschah nicht durch die Einführung neuer Pigmente - denn solche gab es nicht -, sondern durch das Mischen von Farbtönen und durch die Abstufung von Tonwerten. Die Palette des frühen 15. Jahrhunderts war voller und intensiver, was vergleichbare Lasuren ausschloss - Lasuren müssen über helle Farben gelegt werden, um den Farbwert wirklich abtönen zu können; sie konnten aber auch dazu eingesetzt werden, um dekorative Elemente stärker herauszustellen und reicher zu gestalten. Das Porträt eines Lama-Hierarchen besitzt ein solches Kolorit von opaken, gesättigten und dichten Farben mit zahlreichen Mischungen und Schattierungen.
Die Einführung der Landschaft in den Bildraum beispielsweise verlangte eine Vielzahl grüner und blauer Farbtöne. Und ungewöhnliche Farben wurden immer mehr für kunstvoll ausgearbeitete Motive wie Wolken, Vögel und Blumen und für die komplizierten, wellenförmigen Gewanddraperien eingeführt. Die gesamte Grundschicht musste im Voraus angemischt und direkt vom Farbtopf als ebene Farbfläche aufgetragen werden. Darüber legte der Maler die dekorativen linearen Muster, die genaue Formung des Gewandfalls und der Figuren sowie für Schattierung und Tiefe die Lasuren über Rosa und Rot. Der überwiegende Teil der roten Farbflächen wurde mit einer einzigen, durchgehenden Lasur bedeckt, die, reich an Bindemittel, mit einem heute zuweilen unentzifferbaren Muster geschmückt war. Das meiste des übrigen Dekorums ist, unabhängig von der Grundfarbe, in Schwarz wiedergegeben. Bei so vielen Farbtönen ist es schwierig, die Abfolge im Malprozess zu bestimmen; beim Priester-Porträt jedoch ist ersichtlich, dass es im Laufe seiner Entstehung beträchtlichen Revisionen unterworfen war - sogar die Schulzugehörigkeit, oder zumindest die Kopfbedeckung, wechselte. An den abgeriebeneren Stellen der roten Pandita-Mütze lassen sich Spuren von Gelb erkennen. Auch an anderen Stellen sind Umänderungen gemacht worden.
Die Frage, welche zu solchen völligen Abänderungen führten und wer verantwortlich war, kann sich zum gegenwärtigen Zeit jedoch nur im Bereich von Spekulationen bewegen. Die Art, in der Indigo verwendet wurde, ist eher eine Schattierung"- als eine Lasurtechnik - immer noch wurde Indigo eingesetzt, um Volumen und Form fein abgestuft wiederzugeben, aber es war nicht mehr so durchsichtig. Das Lackrot in den Lotosblüten der Medaillons besitzt ebenfalls einen tiefen und konzentrierten Farbton; im rosafarbenen Lotos der Hauptfigur ist es jedoch dünn und gleicht eher einer Lasur, Obwohl es nicht für die Körpermodellierung der Figuren angesetzt wurde. Im Gegensatz dazu pflegten die nepalischen Künstler, die den Vajravali-Zyklus und damit auch das Mandala der Sechs Chakravartins schufen, weiterhin die Kunst der Lasur. Die zugrunde liegenden Farben sind zwar kräftig und opak, aber relativ einfach und es helle Partien, was die ausgiebige Verwendung von Lack erlaubt hat. Die Detailliertheit selbst kleinster Einzelheiten bezeugt die unglaubliche Beherrschung der malerischen Mittel und der Hand, so wie auch das unglaublich feine und komplizierte Rankenwerk die meisterhafte Handhabe der Materialien und die technische Brillanz der Ausführung belegen.
Der äußere Ring des Medaillons in der oberen linken Ecke zeigt eine Abfolge farbiger Segmente: Weiß, gelb, rot, hellblau, gelb und wieder Weiß. Das Flammenmuster entstand, indem eine Lackschicht darüber gesetzt wurde, sodass die darunter liegenden Farben in ein Altrosa, ein Orange, ein Dunkelrot, Purpur und wieder Orange abgetönt wurden und gleichzeitig ein durchgehendes Relief entstand. Der Vajra-Kranz und der innerste Kreis sind mit Indigo und gelber Farbe in sich wiederholenden Mustern gemalt, wobei das Indigo reliefartig erhaben aufgetragen und mit deckendem Gelb gehöht wurde. Die Lotosblüten des Kranzes und des Sockels werden mit Lack über Rot und Gelb und mit Indigo über Blau und Grün modelliert, und mit Weiß werden Akzente gesetzt. Die verschlungenen Rankenmuster um die Medaillons herum wurden mit Farblack gemalt, indem die Bänder des Flechtwerk ausgespart wurden.
Eine derartige Meisterschaft im Detail könnte als eine Absage an die individuelle Künstlerpersönlichkeit verstanden werden, in einer Röntgenaufnahme wird jedoch der persönliche und dem einzelnen Maler zur Gewohnheit gewordene Pinselstrich sichtbar, etwa in der repetitiven, aber ausdrucksvollen Art, mit der der rot gemalte Viertelkreis gleichmäßig ausgefüllt wurde; und in einer Infrarot-Aufnahme kommt zum Vorschein, wie der scheinbar vollkommene übergang des Rankenwerks vom Grün zum Weiß und vom Grün zum Rot angefertigt wurde. Die dunklen Linien über dem Grün sind in
Schwarz gezogen worden und dringen geringfügig in die benachbarten Farbfelder ein. oder sie fehlen. Unter normalen Bedingungen wird das beim Betrachten nicht wahrgenommen, da die Farbtiefe des Rots die Intensität ausgleicht.
Solche Erkenntnisse kann man wohl bei jeder Malerei machen. Sie sind nicht so sehr Hinweise auf bestimmte Techniken und einen damit verbundenen Stil, sondern eher Ausdruck des malerischen Feingefühls eines Künstlers und des Wesens seiner Malerei. Selbst die letzten Stufen des übergangs vom gemalten Bild bis zur geweihten Sphäre der Gottheiten mögen ihre verborgenen Geheimnisse haben.