Padmasambhava [Sanskrit, wörtl.: »Der aus dem Lotos Geborene«, tib.: »bla.ma.pad.ma. ´byun. gnas« oder »Guru Rin-poche« lebte zur Zeit des tibetischen Königs Trisong Detsen [755-797], er ist einer der historisch faßbaren Begründer des Tibetischen Buddhismus. Er prägte vor allem die Lehren der Nyingmapa-Schule und wird von ihren Anhängern als „zweiter Buddha“ verehrt. Seine besondere Aufgabe lag in der Bezähmung der einheimischen Dämonen bzw. der durch sie verkörperten Naturgewalten. Die Methoden des Padmasambhava reichten vom Umgang mit Kultinstrumenten, vor allem dem Phurbu, bis zur Beherrschung der Meditationstechniken des Dzogchen. Die Gestalt des Padmasambhava nahm im Laufe der Jahrhunderte immer stärker legendären Charakter an, und noch heute wird er in den Himalaya-Ländern unter dem Namen Guru Rinpoche [„Kostbarer Lehrer“] verehrt.
Der Legende nach im Lande Orgyen, im Nordwesten von Kaschmir, geboren, meisterte Padmasambhava bald alle zu seiner Zeit existierenden Wissenschaften, vor allem die Lehren der Tantras.
Im späten 8.. Jh. wurde der gelehrte indische Abt Shantarakshita von Herrscher Trisong Detsen aufgerufen, in Samye das erste Kloster Tibets „bSam-yas“ zu gründen. Als Herrscher und Abt Schwierigkeiten mit den örtlichen Gottheiten und Dämonen bekamen, mußten sie den großen Meister Padmasamhhava nach Tibet holen, damit dieser die einheimische Seele zähme und das Erwachen des Dharma ermöglichte. Padmasambhava beschwichtigte alle wichtigen nationalen Gottheiten, ließ das Kloster Samye im Jahre 775 erbauen, initiierte die Übersetzung der buddhistischen Lehren und übermittelte seinen 25 wichtigsten Schülern die grundlegendsten esoterischen Lehren.
Dieser Prozeß dauerte ein halbes Jahrhundert und wurde intensiv von tibetischen Herrschern unterstützt. Viele Tibeter erlangten tiefe Einsichten. Man begann, die buddhistische Ethik zu verbreiten. Die klösterlichen Institutionen erwiesen sich als immer unverzichtbarer, da sie die Bevölkerung davon überzeugen konnten, daß buddhistische Bildung nützlich und buddhistische Medizinkenntnisse herausragend seien. Zudem beeindruckten die Aufwendigkeit buddhistischer Feste und Rituale sowie der Umstand, daß rund um die buddhistischen Klöster Zonen der Freundlichkeit entstanden. Bewundernswert dabei ist, wie es Padmasambhava sowie Shantarakshita und ihren Schülern gelang, ein rauhes Kriegsvolk vom Weg der Gewaltlosigkeit zu überzeugen. Es mußte in den Menschen der Glaube verankert werden, daß die Bezwingung des Selbst wichtiger ist als ein militärischer Sieg, erleuchtete Menschlichkeit wichtiger als einheimische Gottheiten, der Sinn des Lebens in der Ansammlung von Verdienst und Weisheit und nicht von Macht und Vergnügen besteht. Die Angaben über den weiteren Aufenthalt des Padmasambhava in Tibet divergieren von wenigen Monaten bis zu vielen Jahren.
Seine Unterweisungen gab er an 25 Hauptschüler weiter, zu denen auch der tibetische König zählte, und von besonderer Bedeutung waren dabei die »Acht Verkündigungen»«. Zum Nutzen späterer Generationen versteckte er ferner eine Unzahl von Lehren in Form von Texten, die im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte von sog. »Schatzfindern»« [tib. »tertön«] wieder aufgespürt wurden. Padmasambhava versteckte diese Schriften auf magische Weise, damit sie die Zeiten der Verfolgung überlebten.
Um Padmasambhava ranken sich zahlreiche Legenden. Sie beginnen im Paradies Sukhavati, nicht lange nach der Lebenszeit des Buddha Shakyamuni. Avalokiteshvara schaut auf die Erde hinab und erkennt, daß der König von Uddiyana in Nordwestindien damit droht, alle Religionen in seinem Königreich zu vernichten, wenn ihm kein Sohn geboren wird. Der Bodhisattva fürchtet um die Menschen und fragt den Buddha Amitabha, ob man nicht etwas für sie tun könne. Amitabha antwortet, indem er seine Zunge herausstreckt, der ein Meteor mit Regenbogen-Schweif entspringt. Dieser schießt geradewegs gen Uddiyana, wo er in der Mitte eines Lotosteichs niedergeht. Einige Tage später entdeckt dort der Premierminister des Landes einen großen Lotos, auf dem die leuchtende Gestalt eines schönen, achtjährigen Knaben sitzt. Als er diesen fragt, wer er sei, erhält er als Antwort: »Ich habe keinen Namen und keine andere Heimat als das Königreich des Dharma. Mein Vater ist Mitgefühl und meine Mutter Vollkommene Weisheit.« Der Knabe wurde Padmasambhava, Lotos-Geborener, genannt und vom König Indrabhuti als Pflegesohn aufgenommen und erzogen.
Padmasambhava verlebte eine schöne Kindheit, später übergab ihm König Indrabhuti sogar die Herrschaft über das Land, doch konnten Ehe und Macht den jungen Padmasambhava nicht auf Dauer ans Haus binden. Er irritierte die Menschen schon bald durch sein unkonventionelles Verhalten. Schließlich verließ er die menschliche Gesellschaft und strebte die Buddhaschaft an, die er auch bald erlangte. Daraufhin gab er seinen Status als Mönch auf und wurde ein Meister; er wanderte durch Indien und meditierte auf Leichenstätten und in der Wildnis. Er zähmte viele Dämonen, bekehrte etliche barbarische Königreiche zum Buddhismus und erlangte die Kraft der Langlebigkeit. Etwa 1000 Jahre später wurde er von Shantarakshita und König Trisong Detsen nach Tibet eingeladen, wo tibetische Gottheiten den Bau des ersten buddhistischen Klosters in Samye behinderten.
So ist Padmasambhava eine direkte Emanation des Buddha Amitabha und eine zornvolle Entsprechung Avalokiteshvaras; manchmal wird er mit dem archetypischen Buddha Hayagriva assoziiert. Für die Tibeter erfüllt er seine ihm in den Mythen zugeschriebene Aufgabe: alle Attribute des Buddha, der Bodhisattvas und der 84 Großen Meister in sich zu vereinigen. Damit ist er die Personifikation allen göttlichen Wohlwollens gegenüber dem tibetischen Volk. Sein Bild findet sich überall in Tibet, und die Tibeter führen seinen Namen und sein Mantra - »OM AH HUM VAJRA GURU PADMA SIDDHI HUM« - oft auf den Lippen.