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Tibetische Ikonographie

Hayagriva

Hayagrîva [auch „Pferdenacken“ oder „der mit dem Pferd im Nacken“ genannt] ist eine zornig-heldenhafte Meditationsgottheit und zählt zu den bedeutendsten archetypischen Gottheiten [tib. yidam] des tibetischen Buddhismus. Besonders innerhalb der Nyingma-Schule wurde ihm von Anfang an ein wichtiger Platz eingeräumt. Er gilt als die zornvolle Erscheinungsform des Buddha Amithâbhas oder Avalokiteshvaras, der als Heruka oder „Bluttrinker“ der Ich-Anhaftung das erleuchtete männliche Prinzip verkörpert. Dieses erfüllt jede Situation mit Schöpferkraft und Macht. Als solcher ist er der Yidam zornvollen Mitleids und kann damit auch als Padmasambhavas Manifestation gelten. Eines seiner Ursprungs-Mantras, welches im Guhyasamaja Tantra festgehalten ist, lautet denn auch OM HRIH PADMA SAMBHAVA HUM.

Man kennt ihn in verschiedenen Erscheinungsformen, oft mit drei Köpfen, sechs Armen, vier Beinen und manchmal mit großen Flügeln. Dieses Flügelpaar gilt als Zeichen des Sieges über unheilsame Zustände. Er ist gut an dem kleinen Pferdekopf zu erkennen, der aus seinem zornvollen Hauptkopf heraustritt, und dem er auch seinen Namen Hayagriva, der „Pferdenackige“, verdankt. Der Pferdekopf wiehert laut, und es heißt, sein Klang durchdringe alle falschen, die Existenz von tatsächlicher Substanz vortäuschenden Erscheinungen und enthülle dadurch die strahlende Wirklichkeit der Freiheit.

Alles an ihm ist furchterregend: sein finster blickendes Gesicht mit den drei starrenden Augen, sein brüllender Mund mit den hervorstehenden Fangzähnen, seine kriegerisch aggressive Körperhaltung, sein Bauch, der sich vor innerer Energie wölbt, das Schwert, das er mit der rechten Hand furchteinflößend emporschwingt, die Geste des Drohens seiner linken Hand und sein Schmuck aus lebendigen Schlangen. Dieser furchterregende Aspekt drückt den festen Willen des Mitgefühls aus, die Selbstsucht und die äußeren Hindernisse zu bezwingen. Tief verwurzelte falsche Ansichten und Eigenschaften wie Wollust, Haß, Stolz und Neid, die Unglück und Leid verursachen, können nur durch Zorn, der in die Wahrheit durchdringende Weisheit transformiert worden ist, überwunden werden. In der Gestalt von Hayagrîvas sind Liebe und Wildheit vereinigt. Häufig wird auch auf zwei menschlichen Geschöpfen stehend dargestellt. Dann steht er mit seinem ausgestreckten Bein auf einer Frauen- und mit seinem angewickeltem Bein auf einer Männergestalt, die Leidenschaft bzw. Haß symbolisieren. Diese negativen Eigenschaften werden von Hayagrîva in Mitleid und Weisheit umgewandelt.

Hayagriva stammt aus dem Hinduismus, wo er angeblich von einem Pferde züchtenden Stamm verehrt und später mit dem Gott Vishnu identifiziert wurde. Im Mahayanana Buddhismus ist er der Hüter der heiligen Schriften, der die bösen Geister durch Wiehern vertreibt. Er wird häufig als Inkarnation der Transzendenten Buddhas Amithâbha oder Akshobhya bezeichnet und erscheint in der künstlerischen Darstellung in vielfältiger Gestalt.

Ähnlichkeit mit dem Totenrichter Yama hat Hayagrîva in einer zweiarmigen Form; der kleine Pferdekopf in seinem gesträubten Haar über der Schädelkrone macht seine Identifizierung jedoch eindeutig. Er steht im Seitenschritt nach rechts [pratyalidha] auf zwei verschieden geschlechtigen Wesen und hält in der rechten Hand den Zepterstab mit Totenkopf [danda], in der linken die Lassoschlinge [pasa] zum Einfangen und Binden der Feinde der Religion. Er ist gekleidet in einen Schurz aus Tigerfell und trägt [wie Yama] als Schmuckagraffe das Rad der Lehre, dazu eine Schlange [naga]. Das über den Rücken geworfene Elefantenfell ist mit den Beinhäuten am Hals verknotet. Der Kopf des abgehäuteten Elefanten ist an Hayagrîvas rechter Körperseite sichtbar.

Die Beigaben Zepterstab [danda] und Schädelschale führt Hayagriva, wenn er in Vereinigung mit einer Partnerin [yogini] abgebildet wird. Er steht im Ausfallschritt nach rechts auf zwei niedergestreckten Wesen. Bekleidet ist er mit einer Girlande von Köpfen, einer Schlange und dem Schurz aus Tigerfell.

In einer weiteren zweiarmigen Form erscheint Hayagrîva mit den Attributen Hackmesser und Schädelschale; in der linken Armbeuge steht meist, aber nicht immer, der von einem Vajra gekrönte Magische Stab [Kathvanga]. In der Bogenstellung [capasthana] hat der Dharmapala das rechte Bein angezogen, der linke Fuß steht auf einem verkrümmt am Boden liegenden Wesen.

Von einem Vajra gekrönt Armbeuge steht meist, aber nicht immer, der von einem Vajra gekrönte Magische Stab [Kathvanga]. In der Bogenstellung [cãpastháni] hat der Dharmapála das rechte Bein angezogen, der linke Fuß steht auf einem verkrümmt am Boden liegenden Wesen.

Der Kult Hayagrîvas ist in Tibet vor allem unter den Pferdehändlern verbreitet, obwohl dieser eigentlich nicht die Funktion als Schutzpatron der Pferde innehat, sondern mit seinem fürchterlichen Wesen die Dämonen zu vertreiben weiß.

Gemäß dem tibetischen Totenbuch ist er auch Torhüter des Westens, der dem Verstorbenen am 6. Tag des dritten Stadiums des Bar do erscheint.

Auch in der Bön-Religion kommt Hayagrîva vor, er steht dort in Verbindung mit dem rituellen Treueeid, den die Untertanen alle drei Jahre ihren lokalen Herrschern zu bekunden hatten und anläßlich dessen u.a. Pferde und Hunde geopfert wurden. Begleitende Meditationsübungen der Bön-Priester in diesem Zusammenhang brachten die Vision eines Garuda-Vogels und Hayagrîvas zu einer furchterregenden Gottheit verschmolzen hervor, die im Augenblick des Treueeids alle gefährlichen Dämonen und Geister vertrieb und so für eine neue, glückliche Dreijahresperiode sorgte.