Technik und Materialien in der frühen zentraltibetischen Malerei
Auszug aus: Geheime Visionen - Frühe Malerei aus Zentral Tibet,
von Steven M. Kossak and Jane Casey Singer, mit einem Essay von Robert Bruce-Gardner
© by The Metropolitan Museum of Art, New York.
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung
Grundierung
Auch bei der Grundierung - die [fast immer weiße] Fläche, aufweiche Zeichnung und Malerei aufgetragen wurden - gab es bestimmte vorherrschende Varianten und Beschränkungen. Sie bestand aus einer hellen, chemisch inaktiven Substanz [gewöhnlich Kreide oder eine Tonerde wie Kaolin], die mit tierischem Leim gebunden wurde. Die Absorbierfähigkeit hing von der Stärke der Vorleimung sowie von der Glätte des Stoffes ab, und die Dicke der Grundierung sowie das Gewebe des Bildträgers entschied, ob die Oberfläche des Malgrunds glatt oder uneben war.
Im heutigen Verfahren, das in dieser Hinsicht vermutlich dem früher verwendeten entspricht, wird eine Verhältnis-massig kleine Menge warmen flüssigen Leims zum pulverisierten, chemisch inaktiven Substrat gefügt, das Ganze dann gemischt und mit der Hand wie ein Teig geknetet, um sicherzustellen, dass das Bindemittel gleichmäßig verteilt wird und keine Klumpen aus nicht abgebundenem Pulver entstehen. Dann wird mehr Leim beigegeben und in einem Gefäß verrührt, bis das richtige Gleichmaß und der erforderliche Grad an Festigkeit erreicht ist. Das richtige Mischungsverhältnis und die richtige Konsistenz sind von entscheidender Bedeutung, denn die aufgetrocknete Grundierung darf weder zu wenig - dann saugt sie zu stark und wird bröckelig - noch zu stark abgebunden sein - dann wird sie unelastisch und spröde. Die gewünschten Eigenschaften des Malgrundes bestimmen, welches Mischungsverhältnis und vermutlich auch welches Substrat gewählt werden muss. Kaolin beispielsweise dürfte einen Malgrund ergeben haben, der Druckspannungen relativ gut standhielt und ein stärkeres Polieren erlaubte, und somit besaß ein solcher Malgrund auch eine größere Glätte und erlaubte eleganteres Arbeiten. In die Grundierung ist zuweilen auch ein Pigment gemischt worden, welches das grelle Weiß abtönt.
Die Grundierung wird auf beide Seiten des Bildträgers aufgetragen und füllt so die kleinen Zwischenräume des Gewebes aus, umschließt die Fasern des Garns und schafft einen einheitlichen und sicheren Verband. Diese Versiegelung schützt das Gewebe des Bildträgers vor den natürlichen Folgen der Abnutzung und vor potenzieller Brüchigkeit Wenn das Bild nach seiner Fertigstellung aus dem Spannrahmen geschnitten wurde, war der Bildträger - im Gegensatz zu Leinwandgemälden des Westens - nie mehr unter Spannung nach zwei Seiten, was die bis heute so bemerkenswert erhaltene Flexibilität erklären hilft.
Der Grad des Absorptionsvermögens der Grundierung kann den Fluss und die Kontinuität des Pinselstrichs beeinflussen; deshalb braucht es für eine elegante Linienführung und Detailzeichnung eine glatte und ebene Oberfläche, und das Glätten oder Polieren der Grundierung gehört zu den Raffinessen dieser Malerei. Die enge Verbindung von Gewebe und Grundierung ist der Schlüssel dafür, dass diese Bilder erhalten geblieben sind - auf beste Weise veranschaulicht dies die bis in die Gegenwart bewahrte Elastizität und der perfekte Zustand des Mandalas der Sechs Chakravartins.
Liniengitter und Vorzeichnungen ...